Wir lügen uns ja alle gerne etwas in die Tasche, ständig, unablässig. Das ist
zwangsläufig so, denn der blinde Fleck in unserem Blick auf die Welt betrifft
unsere eigene Person, das eigene Ich. Wenn wir uns nicht trauen, im
übertragenen Sinne "in den Spiegel zu schauen", uns durch andere
reflektieren zu lassen, können wir nichts anderes, als in der eigenen Suppe zu
kochen. Genau dies passiert 104 Setien lang im zweiten Roman des französischen
Schriftstellers Laurent Mauvignier, der dort unter anderem mit dem renommierten
Literaturpreis "Prix Librairis" ausgezeichnet wurde. Ein Monolog, der
in Gedankenfragmenten und Erinnerungssplittern einen einsamen Prozeß
beschreibt, der einem den Atem raubt. Bereits der Anlaß lässt erahnen, welches
gewaltige Potential an emotionaler Verstrickung ansteht: nach einem Unfall
entrinnt der Ehemann, der seine Frau wegen einer Anderen verlassen wollte, nur
knapp dem Tod. Gebrochen, haßerfüllt und unfähig, eine einzige Bewegung
auszuführen, kehrt er aus dem Hospital nach Hause zurück. Seine Frau,
entschlossen, die schmerzliche Vergangenheit zu vergessen, will mit aufopfernder
Fürsorge seine Liebe wiedergewinnen. Ihre gestochen scharfen Beobachtungen, ihr
Erkennen und Benennen des immensen Zorns, der ihr entgegengebrachten Verachtung,
ihre eigene Verzweiflung und die einsamen Selbstgespräche bringen die
Wortlosigkeit, das Schweigen, das Kochen in der eigenen Suppe genau auf den
Punkt. Es wird klar, daß der Prozeß schmerzlicher Entfremdung nicht erst mit
dem Unfall eintritt, sondern die nicht stattfindenen Gespräche zwischen ihr und
ihrem Mann, all das, was in der Familie nicht an- und ausgesprochen werden darf,
schon lange unter der Oberfläche brodelt. Da kein Gespräch möglich ist, wird
die persönliche Entwicklung durch Zweifel, Angst und Einsamkeit gestaltet. Wo
diese Entwicklung ein Ende findet, beginnt die literarische Meisterleistung
Mauvigniers: wortgewaltige Sprachlosigkeit.
Fazit
Nicht gerade leichte Kost, doch wer mehr als bloße Unterhaltung sucht, kann mit
diesem Buch einige anregende Stunden verbringen.
Vorgeschlagen von Annette Rieck
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veröffentlicht am 06. Februar 2005 2005-02-06 17:09:41