Wer sich mit der Epoche des deutschen Kaiserreiches beschäftigt, kommt um das
vorliegende Werk des kürzlich verstorbenen Historikers Wolfgang J. Mommsen
nicht herum. Es handelt sich hierbei um eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema,
die in diesem Buch erstmals vereint worden sind. Im Gegensatz zu seinen beiden -
voluminösen - Darstellungen: "Das Ringen um den nationalen Staat"
sowie: "Bürgerstolz und Weltmachtstreben", die im Rahmen der
"Propyläen Geschichte Deutschlands" erschienen sind, geht es hier
nicht in erster Linie um die Nacherzählung von Ereignissen, sondern um
strukturelle Zusammenhänge der Verfassung, Gesellschaft, Kultur im deutschen
Kaiserreich, wobei die Innen- und Außenpolitik gebührend gewürdigt werden.
Der halbkonstitutionale Verfassungskompromiss, den der "weiße
Revolutinär" Bismarck geschaffen hat, wird als "System umgangener
Entscheidungen" charakterisiert, die Verfassung des Kaiserreiches als
"dilatorischer Herrschaftskompromiss" dargestellt. Die
Bonapartismus-These von Hans-Ulrich Wehler (etwa in dessen Darstellung zum
deutschen Kaiserreich) unterstützt Mommsen "von der Sache her" (S.
14), wobei die Persönlichkeit Bismarcks stärker berücksichtigt werden
müsse.
Gut auch die weitere Darstellung über die Innen- und Außenpolitik,
Gesellschaft und Staat im liberalen Zeitalter, wobei hervorzuheben ist, das
Mommsen - der linksliberale Historiker - ausgesprochen ausgewogen argumentiert
und differenziert. Der Verzicht auf eindimensionale bzw. monokausale Deutungen
ist wohltuend. Der mangelnde Ausgleich der der Interessen und Zielsetzungen der
Führungseliten und der aufsteigenden Mittelschichten, die aktive Befürworter
der "Welt[macht]politik Kaiser Wilhelms II. gewesen sind, habe dazu
geführt, dass grosse Teile der bürgerlichen Schichten von immer radikaleren
nationalistischen Begehrlichkeiten erfasst worden seien. Besonders gut kommt
dies im Aufsatz: "Außenpolitik und öffentliche Meinung im Wilhelminischen
Deutschland 1897-1914" sowie desweiteren im Aufsatz: "Der Topos vom
unvermeidlichen Krieg" zum Ausdruck. Für einen Aufsatz über die
Außenpolitik des Kaiserreiches war mir dieses Buch eine unschätzbare Hilfe,
zumal auch die innenpolitischen Bestimmungsfaktoren der deutschen Außenpolitik
treffend analysiert werden.
Fazit
Ein hervoragendes Buch - neben den Werken Wehlers, Volker Ullrichs, Sebastian
Haffners, John C.G. Röhls und Winfried Loths zum Kaiserreich noch wichtiger als
die oben erwähnten beiden Bände Wehlers. Zielgruppe sind hier in erster Linie
Historiker.
Im Gegensatz zu Wehler besticht hier die leichte Lesbarkeit, die dies Buch auch
für Laien und Geschichtsinteressierte zu einer wahren Fundgrube werden lässt.
Auch für Referate oder zur Vorbereitung von Prüfungen ist dieses Buch
unübertroffen. Unbedingt empfehlenswert. Hoffentlich wird es bald neu
aufgelegt.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 28. Dezember 2004 2004-12-28 15:36:27