Hans-Ulrich Wehlers Darstelung über das Deutsche Kaiserreich ist nach wie vor
ein Klassiker zum Thema, obwohl er schon 1973 erschienen ist. Dies sagt alles.
Das Buch hat Massstäbe gesetzt. Es ist seinem Anspruch gerecht geworden, enie
problemorientierte historische Strukturanalyse des deutschen Kaiserreiches zu
liefern. Geschichtswissenschaft wird hier als kritische
Gesellschaftswissenschaft verstanden. Wie es Wehler in seinem neuen
hervorragenden Band über die deutsche Gesellschaftsgeschichte noch pointierter
darlegt, wird hier der Zusammenhang zwischen politischer, sozialer und
gesellschaftlicher Geschichte gut dargelegt.
Daher ist dieses Buch bis heute unübertroffen in dieser Hinsicht.
Kritische Anmerkungen sind allerdings in anderer Hinsicht angebracht:
Der personale Faktor in der Geschichte wird vernachlässigt. Wie John C.G. Röhl
in seinem Werk: "Kaiser, Hof und Staat" richtig schreibt, kann das
politische System des wilhelminischen Kaiserreiches in seiner Essenz nur als
Monarchie begriffen werden und dies bedeutet, dass mithin der Kaiser, die
kaiserliche Familie, der Freundeskreis, die kaiserliche Umgebung und der Hof im
Mittelpunkt des Systems standen, von dem - unter Wilhelm II. - selbst die
höchsten Reichs- und Staatsbeamten mental und machtpolitisch abhängig waren.
In diesem ganz entscheidenden Punkt unterscheidet sich das Regierungssystem
unter Wilhelm II. von der sogenannten "Kanzlerdiktatur" Bismarcks,
auch wenn es 1890 nicht zu einer formalen Verfassungsänderung kam. Insofern
kann das wilhelminische Kaisertum, welches als eigenständige Eoche mit eigenen
Gesetzmäßigkeiten in die Verfassungsgeschichte des deutschen Nationalstaates
einzuordnen ist, nicht als Fortsetzung der "bonapartistischen
Kanzlerdiktatur" Bismarcks verstanden werden. Hier hat Röhl, dessen
Darstellung ich für die beste Publikation über Wilhelm II. und seinen Hof
halte, durchaus recht.
Man muss die Publikation Wehlers allerdings im Kontext der deutschen
Geschichtsschreibung über das Kaiserreich nach 1945 begreifen. Darauf hat
Wilfried Loth, dessen Darstellung zum Kaiserreich zu den besten gehört, die ich
gelesen habe, dankenswerterweise deutlich hingewiesen. Nach dem zweiten
Weltkrieg wurden Darstellungen, die betonten, dass das Kaiserreich eine
Gründung gegen den Geist der Zeit gewesen, weil es das politische Pendant zur
wirtschaftlichen Modernisierung verweigert habe, zunächst nicht beachtet.
Ereignisgeschichtliche Darstellungen, die sozialgeschichtliche Deutungen
ausklammerten, standen im Mittelpunkt der Darstellungen. Erst nach der
Publikation der Werke von Fritz Fischer: "Griff nach der Weltmacht"
und "Krieg der Illusionen" von 1961 und 1969 setzte eine breite
Diskussion der Linien ein, die das Kaiserreich mit dem Dritten Reich verbanden.
Sie verquickte sich mit Bemühungen um eine methodische Erneuerung der deutschen
Geschichtswissenschaft, ihre Öffnung für Fragestellungen, Methoden und
Ergebnisse der systematischen Sozialwissenschaften und führte zu einer
lebhaften, oft polemischen und verwirrenden, aber insgesamt doch ertragreichen
Debatte. Wehlers Publikation ist als Höhepunkt dieser Debatte zu betrachten.
Der Form nach handelt es sich - wie Loth treffend bilanziert - um eine
einführende Darstellung im Rahmen einer modernen "Deutschen
Geschichte", tatsächlich stellt sie aber ein Kompendium analytischer
Thesen zur Struktur des Kaiserreiches dar. Das Reich erschien darin bis 1890
"als ein plebiszitär gekräftigtes, bonapartistisches Dikatroialregime im
Gehäuse einer die traditionellen Eliten begünstigenden, aber rapider
Industrialisierung und mit ihr partieller Modernisierung unterworfenen,
halbabsolutistischen und pseudokonstitutionellen, vom Bürgertum und Bürokratie
teilweise mitbeienflußten Militärmonarchie", danach als "autoritäre
Polykratie ohne Koordination", der die "traditinellen
Oligarchien" nach wie vor ihren Stempel aufdrückten.
Dieses ungemein anregende und dichte, aber nach Meinung Loths nicht immer
konsistente Überangebot von Deutungen und Wertungen rief zahlreiche Kritiker
auf den Plan. So meinte Lothar Gall, das Bonapartismus-Paradigma sei auf das
Kaiserreich nicht anwendbar, da dieses das Vorhandensein einer
"postrevolutionären Gesellschaft" nach französischem Muster
voraussetze. Thomas Nipperdey kritisierte "fatale Eindeutigkeit",
unzulässige Vermischung von Analyse und Anklage, einseitige Perspektive auf das
Dritte Reich, Überschätzung der Einheit der herrschenden Schichten und
Unterschätzung der Leistungen des Systems. Geoff Eley und David Blackbourn,
zwei britische Historiker, wandten gegen die in der Tradition der liberalen
Kritik stehende These eines deutschen "Sonderwegs" in die Moderne ein,
dass von einem westeuropäischen "Normalweg" zur Demokratie nicht die
Rede sein könne, und behaupteten gegen die Kritik an der Konservierung der
Machtstellung der traditionellen Eliten, dass auch in Deutschland eine
"bürgerliche Revolution" stattgefunden habe; diese Revolution und
nicht etwa der Mangel an Bürgerlichkeit, sei auch für die autoritären
Zuspitzungen des Kaiserreiches verantwortlich. Loth bilanziert zu recht, dass
diese Einwände zwar Schwächen der vorliegenden Publikation benennnen, jedoch
den Erklärungswert, den die Übertragung des Bonapartismus-Modells auf das
Kaiserreich bietet, außer Acht ließen. Zum Teile unterschätzten sie auch die
Beharrungskraft, die die traditionalen Gewalten ganz offensihtlich entwickelten,
und unterließen es, die Kosten des deutschen Weges in die Moderne klar zu
benennen. Dies ermöglichte es Wehler, der Kritik unter Modifierung einiger
seiner Thesen eine hervorragende Replik im "Merkur" von 1981 (Merkur
35 (1981), S. 478-487) entgegenzusetzen.
Mich haben dennoch einige Fragen nicht mehr losgelassen: einerseits wird in dem
vorliegenden Werk konstatiert, dass wichtige ökonomische, gesellschaftliche und
politische Entscheidungen im Interesse der agrargesellschaftlichen
Führungseliten gefällt worden sind (S. 15). Andererseits hat die Forschung -
etwa Volker Ullrich - hervorragend herausgearbeitet, dass gerade diese
traditionellen Eliten der "Welt[macht]politik" Kaiser Wilhelms II.
äußerst reserviert gegenüberstanden. Bismarcks Reserve gegenüber einer
solchen Politik wird mit seiner entsprechenden Prägung durch diese agrarischen
Eliten, die bis in die Weimarer Republik die Geschicke des Kaiserreiches
bestimmten, dominiert.
Die Politik des Kaiserreiches ist also ohne die entscheidenden
Persönlichkeiten, die seine Entscheidungen geprägt haben, Bismarck von 1871
bis 1890 und Wilhelm II., nicht zu verstehen. Gerade Wilhelm II. bestand
mehrfach darauf, er allein sei Herr im Reich und dulde keinen anderen. Dem
Prinzen von Wales sagte er: "I am the sole master of German policy and my
country must foloow me whereever I go." Wilhelm II. verkörperte zwar
Sehnsüchte, insbesondere im Bürgertum, nach "Weltmachtstreben".
Diese hätten aber niemals zu der "Urkatastrophe" des ersten
Weltkrieges geführt, wenn die Reichsleitung, u.a. Wilhelm II. und die
Militärs, fatale Fehleinschätzungen unterlegen wären, die zu der fatalen
Kettenreaktion im Juli 1914 führten. Dieser personelle Aspekt, der Einfluss
Wilhelms II. und des Hofes, kommt bei Wehler eindeutig zu kurz.
Fazit
Dennoch: eine interessante und provokante Geschichte des Kaiserreiches, die bis
heute von ihrer Frische nichts verloren hat. Uneingeschränkt empfehlenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 27. Dezember 2004 2004-12-27 12:30:54