Der kürzlich verstorbene Historiker Wolfgang J. Mommsen fasst in dieser
durchaus interessanten Studie die Innen-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und
Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches in der Epoche Wilhelms II. zusammen.
Er fasst hier in Kürze die Erkenntnisse seines monumentalen und grossartigen
Geschichtswerkes: "Bürgerstolz und Weltmachtstreben", einer der
besten Darstellungen des Kaiserreiches unter Wilhelm II. zwischen 1890 und 1918,
zusammen.
Grund der Studie ist eine Differenz zu John C. G. Röhl, dessen Lebenswerk die
Beschäftigung mit Wilhelm II. gewesen ist. Er hat zwischenzeitlich sowohl sein
brilliantes Buch: "Kaiser, Hof und Staat": Wilhelm II. und die
deutsche Politik" (4., verb. u. erw. Aufl. 195) durch eine grossartige
Biograpie Wilhelms II. ergänzt, von der inzwischen zwei Bände vorliegen.
Während Röhl in Wilhelm II. den Hauptverantwortlichen der deutschen Innen- und
Außenpolitik zwischen 1890 und 1914 sieht und ihm eine "erhebliche
Mitschuld" (so ein Interview zum Anteil Wilhelms am Ausbruch des Ersten
Weltkrieges) zuschreibt und in Anlehnung eines Terminus von Norbert Elias vom
"Königsmechanismus" spricht, weist Mommsen dezidiwert in seinem
letzten Werk darauf hin, dass der Anteil der preußisch-deutschen konservativen
Machteliten am Anteil der deutschen Politik nicht unterschätzt werden dürfe.
Dies stimmt sicherlich.
Dennoch hat mich Mommsens Argumentation nicht ganz überzeugt, denn er belegt in
dieser Studie treffend den Einfluss, den Wilhelm II. auf die deutsche Politik
hatte. Sicherlich ist es richtig, dass das kaiserliche Regiment sich ab 1906 -
und insbesondere mit der sogenannten "Daily Telegraph"-Affäre, die
erstmals massive Kritik an dem sogenannten "persönlichen Regiment"
des Kaisers laut werden ließ - in der Defensive befand.
Dennoch trug der Kaiser - und darin ist eindeutig Röhl recht zu geben -
letztendlich die Verantwortung für die deutsche Politik. Dies stand im
Gegensatz zu seinem - sicherlich sehr konservativen - Großvater, der sich -
insbesondere im hohen Alter - immer mehr auf Bismarck verließ und selber als
"leutseelig-populäres Staatsoberhaupt" (so etwa Volker Ullrich) über
den Parteien stand (sein Ausspruch: "es ist schwer, unter Bismarck Kaiser
zu sein!" ist legendär geworden)mehr und mehr auf repräsentative Aufgaben
zurückzog.
Wilhelm II. wollte dagegen Selbstherrscher sein. Natürlich war der Kaiser nicht
an "allem schuld", aber sein Anteil am Weg in den Weltkrieg war
evident. Wilhelm II. wußte einen Großteil des Bildungsbürgertums hinter sich
- Bürgerstolz und Weltmachtstreben der Eliten trafen eben zusammen, der Kaiser
repräsentierte breite Strömungen (wenn auch nicht alle) der deutschen
Bevölkerung.
Meines Erachtens haben beide Historiker recht und der
"Historikerstreit" Mommsen/Röhl erscheint mir recht akademisch zu
sein. Wilhelm II. trug die Hauptverantwortung an der deutschen Politik, sein
neo-absolutistisches Staatsverständnis ließ eine Delegation der
Verantwortlichkeiten nicht zu. Er war allerdings auch schreckhaft und scheute
die Konsequenzen seiner - oft martialischen - Reden. Er wurde falsch beraten. Er
war daher nicht "an allem schuld", die Berater und Eliten des
Kaiserreiches tragen einen erheblichen Anteil an den Verantwortlichkeiten der
Politik des Kaiserrreiches zwischen 1890 und 1918. Darin hat Mommsen recht.
Dennoch ist der zentrale Einfluss des Kaisers auf die nach ihm benannte -
nämlich wilhelminische Politik - wie es ja auch Mommsen durchaus zeigt - nicht
zu übersehen. Ein kindlicher Minderwertigkeitskomplex und seine körperliche
Behinderung sind von zahlreichen Historikern - auch Mommsen und Röhl - für die
Charaktereigenschaften Wilhelms II. angeführt worden, der jedoch ein "Kind
seiner Zeit" blieb. Er war - im Sinne des "Königsmechanismus"
durchaus der Hauptverantwortliche und Initiator der deutschen Politik - auch
nach der "Daily Telegraph-Affäre" 1908. Richard Ned Lebow hat
nachgewiesen, dass in der Außenpolitik eine eigenständige Meinung der
Diplomaten nicht geduldet wurde - sie mußten der Reichsleitung und dem Kaiser
"nach dem Mund reden". Röhl zeigt dies auch für den Hof und die
Hofgesellschaft Wilhelms II. auf. Auch Mommsen betont, wie Wilhelm II. bereits
unmittelbar nach seiner Thronbesteigung daranging, seine Hofgesellschaft
personell umzugestalten und sich "auf diese Weise ein gefügiges
Umfeld" zu verschaffen (S. 26). Er duldete nur Ja-Sager und keinen
Widerspruch. Aufgrund der halbkonstitutionellen Verfassung des deutschen
Kaiserreiches, vom "weißen Revolutionär" Bismarck geschaffen, gab es
letztlich keine Gegengewichte gegen den Kaiser. Zwar bleibt zweifelhaft, ob eine
parlamentarische Monarchie nicht ebenfalls ein gigantisches Flottenprogramm
gegen England aufgelegt hätte - der Einfluss des "persönlichen
Regiments" des Monarchen wäre allerdings in einem solchen Fall begrenzt
worden. Und hier gilt, was der deutsche Admiral Albert Hopman im Oktober 1918
schrieb: "Es ist gekommen, wie ich vorausgesehen, nicht nur in den letzten
Wochen, sondern lange lange vorher. Was Deutschland in den letzten 3 Jahrzehnten
gesündigt hat, muss es büßen. Es war politisch erstarrt durch das blinde
Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den Willen eines in Eitelkeit und
Selbstüberschätzung strotzenden Narren." Diese zentrale Feststellung
Röhls aus seinem Aufsatz: "Kaiser Wilhelm II: Eine Charakterskizze"
in seinem Buch: "Kaiser, Hof und Staat" ist völlig korrekt.
Natürlich war der Kaiser "nicht an allem schuld." Der Versuch
Mommsens ist dennoch nicht zu übersehen, die Verantwortung des Kaisers geringer
zu werten, als sie es tatsächlich gewesen ist. Insofern neige ich in dem Streit
Röhl zu. Allerdings scheinen mir beide Positionen zu überspitzt zu sein, wie
oben angedeutet. Die "Wahrheit" dürfte wohl eher in der Mitte beider
Positionen liegen.
Für alle Interessierte der wilhelminischen Epoche ist das Buch - wie auch die
Bücher von Röhl - unverzichtbar. Als Einführung sind Röhls: "Kaiser,
Hof und Staat", das vorliegende Werk von Mommsen sowie das von Lothar Gall
herausgegebene: "Otto von Bismarck und Wilhelm II." neben Wehlers
Klassiker zum deutschen Kaiserreich nach wie vor die besten Einführungen zum
Thema.
Fazit
Trotz obiger Kritik ist das Buch von Mommsen äußerst lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 18. Dezember 2004 2004-12-18 10:45:38