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Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld?

War der Kaiser an allem schuld?

von Wolfgang J. Mommsen
Verlag: Propyläen Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-549-07169-4

Preis: 29,91 Euro bei Amazon.de [Stand: 20. November 2024]
Der kürzlich verstorbene Historiker Wolfgang J. Mommsen fasst in dieser durchaus interessanten Studie die Innen-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches in der Epoche Wilhelms II. zusammen. Er fasst hier in Kürze die Erkenntnisse seines monumentalen und grossartigen Geschichtswerkes: "Bürgerstolz und Weltmachtstreben", einer der besten Darstellungen des Kaiserreiches unter Wilhelm II. zwischen 1890 und 1918, zusammen.
Grund der Studie ist eine Differenz zu John C. G. Röhl, dessen Lebenswerk die Beschäftigung mit Wilhelm II. gewesen ist. Er hat zwischenzeitlich sowohl sein brilliantes Buch: "Kaiser, Hof und Staat": Wilhelm II. und die deutsche Politik" (4., verb. u. erw. Aufl. 195) durch eine grossartige Biograpie Wilhelms II. ergänzt, von der inzwischen zwei Bände vorliegen.

Während Röhl in Wilhelm II. den Hauptverantwortlichen der deutschen Innen- und Außenpolitik zwischen 1890 und 1914 sieht und ihm eine "erhebliche Mitschuld" (so ein Interview zum Anteil Wilhelms am Ausbruch des Ersten Weltkrieges) zuschreibt und in Anlehnung eines Terminus von Norbert Elias vom "Königsmechanismus" spricht, weist Mommsen dezidiwert in seinem letzten Werk darauf hin, dass der Anteil der preußisch-deutschen konservativen Machteliten am Anteil der deutschen Politik nicht unterschätzt werden dürfe. Dies stimmt sicherlich.

Dennoch hat mich Mommsens Argumentation nicht ganz überzeugt, denn er belegt in dieser Studie treffend den Einfluss, den Wilhelm II. auf die deutsche Politik hatte. Sicherlich ist es richtig, dass das kaiserliche Regiment sich ab 1906 - und insbesondere mit der sogenannten "Daily Telegraph"-Affäre, die erstmals massive Kritik an dem sogenannten "persönlichen Regiment" des Kaisers laut werden ließ - in der Defensive befand.

Dennoch trug der Kaiser - und darin ist eindeutig Röhl recht zu geben - letztendlich die Verantwortung für die deutsche Politik. Dies stand im Gegensatz zu seinem - sicherlich sehr konservativen - Großvater, der sich - insbesondere im hohen Alter - immer mehr auf Bismarck verließ und selber als "leutseelig-populäres Staatsoberhaupt" (so etwa Volker Ullrich) über den Parteien stand (sein Ausspruch: "es ist schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein!" ist legendär geworden)mehr und mehr auf repräsentative Aufgaben zurückzog.

Wilhelm II. wollte dagegen Selbstherrscher sein. Natürlich war der Kaiser nicht an "allem schuld", aber sein Anteil am Weg in den Weltkrieg war evident. Wilhelm II. wußte einen Großteil des Bildungsbürgertums hinter sich - Bürgerstolz und Weltmachtstreben der Eliten trafen eben zusammen, der Kaiser repräsentierte breite Strömungen (wenn auch nicht alle) der deutschen Bevölkerung.

Meines Erachtens haben beide Historiker recht und der "Historikerstreit" Mommsen/Röhl erscheint mir recht akademisch zu sein. Wilhelm II. trug die Hauptverantwortung an der deutschen Politik, sein neo-absolutistisches Staatsverständnis ließ eine Delegation der Verantwortlichkeiten nicht zu. Er war allerdings auch schreckhaft und scheute die Konsequenzen seiner - oft martialischen - Reden. Er wurde falsch beraten. Er war daher nicht "an allem schuld", die Berater und Eliten des Kaiserreiches tragen einen erheblichen Anteil an den Verantwortlichkeiten der Politik des Kaiserrreiches zwischen 1890 und 1918. Darin hat Mommsen recht. Dennoch ist der zentrale Einfluss des Kaisers auf die nach ihm benannte - nämlich wilhelminische Politik - wie es ja auch Mommsen durchaus zeigt - nicht zu übersehen. Ein kindlicher Minderwertigkeitskomplex und seine körperliche Behinderung sind von zahlreichen Historikern - auch Mommsen und Röhl - für die Charaktereigenschaften Wilhelms II. angeführt worden, der jedoch ein "Kind seiner Zeit" blieb. Er war - im Sinne des "Königsmechanismus" durchaus der Hauptverantwortliche und Initiator der deutschen Politik - auch nach der "Daily Telegraph-Affäre" 1908. Richard Ned Lebow hat nachgewiesen, dass in der Außenpolitik eine eigenständige Meinung der Diplomaten nicht geduldet wurde - sie mußten der Reichsleitung und dem Kaiser "nach dem Mund reden". Röhl zeigt dies auch für den Hof und die Hofgesellschaft Wilhelms II. auf. Auch Mommsen betont, wie Wilhelm II. bereits unmittelbar nach seiner Thronbesteigung daranging, seine Hofgesellschaft personell umzugestalten und sich "auf diese Weise ein gefügiges Umfeld" zu verschaffen (S. 26). Er duldete nur Ja-Sager und keinen Widerspruch. Aufgrund der halbkonstitutionellen Verfassung des deutschen Kaiserreiches, vom "weißen Revolutionär" Bismarck geschaffen, gab es letztlich keine Gegengewichte gegen den Kaiser. Zwar bleibt zweifelhaft, ob eine parlamentarische Monarchie nicht ebenfalls ein gigantisches Flottenprogramm gegen England aufgelegt hätte - der Einfluss des "persönlichen Regiments" des Monarchen wäre allerdings in einem solchen Fall begrenzt worden. Und hier gilt, was der deutsche Admiral Albert Hopman im Oktober 1918 schrieb: "Es ist gekommen, wie ich vorausgesehen, nicht nur in den letzten Wochen, sondern lange lange vorher. Was Deutschland in den letzten 3 Jahrzehnten gesündigt hat, muss es büßen. Es war politisch erstarrt durch das blinde Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den Willen eines in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzenden Narren." Diese zentrale Feststellung Röhls aus seinem Aufsatz: "Kaiser Wilhelm II: Eine Charakterskizze" in seinem Buch: "Kaiser, Hof und Staat" ist völlig korrekt. Natürlich war der Kaiser "nicht an allem schuld." Der Versuch Mommsens ist dennoch nicht zu übersehen, die Verantwortung des Kaisers geringer zu werten, als sie es tatsächlich gewesen ist. Insofern neige ich in dem Streit Röhl zu. Allerdings scheinen mir beide Positionen zu überspitzt zu sein, wie oben angedeutet. Die "Wahrheit" dürfte wohl eher in der Mitte beider Positionen liegen.

Für alle Interessierte der wilhelminischen Epoche ist das Buch - wie auch die Bücher von Röhl - unverzichtbar. Als Einführung sind Röhls: "Kaiser, Hof und Staat", das vorliegende Werk von Mommsen sowie das von Lothar Gall herausgegebene: "Otto von Bismarck und Wilhelm II." neben Wehlers Klassiker zum deutschen Kaiserreich nach wie vor die besten Einführungen zum Thema.
Fazit
Trotz obiger Kritik ist das Buch von Mommsen äußerst lesenswert.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne
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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 18. Dezember 2004

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