Über die Amtszeit Gorbatschows und die Perestroika liegen nun auch in
Deutschland zahlreiche Titel vor. Genannt seien beispielsweise Gerhard und Nadja
Simon: "Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums",
Wolfgang Leonhard: "Die Reform
entlässt ihre Kinder" und
Archie Brown: "Der
Gorbatschow-Faktor". Generell bietet das Buch der Leipziger Sowjetologin
zahlreiche Informationen.
Nachdem im Vorwort die Umstände der Wahl Gorbatschows dargelegt worden waren,
analysiert das 1. Kapitel "Paralyse einer Weltmacht" den Zustand der
Sowjetunion unter den Gerontokraten, also der Zeit der Führung Breschnjews seit
den 1970-ger Jahren, wobei auch der Alltag zur Zeit des Machtwechsels im März
1985 zur Illustration mit herangezogen wird. Eingehend werden Mängel der
Sowjetwirtschaft untersucht. Die Autorin stellt hier eindeutig klar, dass
Gorbatschow selber eine "native Vision" besaß und kein Konzept für
die Perestroika hatte. Dies wird an den schädlichen und undurchdachten Folgen
der von ZK-Sekretär Ligatschow (seit April 1985 "Zweiter" Mann in der
Kreml-Führung, zunächst Gorbatschows Verbündeter, später sein Hauptrivale in
der Führung) initierten Anti-Alkoholkampagne deutlich gemacht.
Im Gegensatz zu anderen Publikationen werden allerdings stärker externe
Faktoren wie die sich für die UdSSR verschlechternde internationale
Wirtschaftssituation für den wirtschaftlichen Misserfolg der Perestroika
mitverantwortlich gemacht.
Insbesondere das Jackson-Vanik-Amendment aus dem Jahre 1974, welches der
Sowjetunion den Zugang zu US-Exportkrediten versperrte und die wachsende
Abhängigkeit der UdSSR von westlichern Investitionsgütern und Technologie
führten bei gleichzeitig massiv sinkenden Erdölpreisen zu einem wachsenden
Investitionsbedarf der Sowjetunion. So wies die Devisenbilanz der UdSSR bereits
1986 einen Fehlbetrag von fast fünf Milliarden US-Dollar auf. Der Kursverlust
des Dollars gegenüber den wichtigsten Währungen verschärfte die kritische
Entwicklung weiter, da Moskau für den größten Teil seiner Exporte US-Dollar
erhielt, die meisten Westeinfuhren aber in europäischen Währungen zu
begleichen hatte. Der wachsende Finanzmittelbedarf habe Gorbatschow dazu
gezwungen, sich den internationalen Finanzinstitutionen zu nähern.
Im Gegensatz etwa zu Gerhard und Nadja Simon, die insbesondere in den Altlasten
der "administrativen Kommandowirtschaft" und der verfehlten
Wirtschaftspolitik Gorbatschows die Ursachen für sein wirtschaftspolitisches
Scheitern sehen (da er nicht konsequent die Marktwirtschaft in der Sowjetunion
eingeführt habe, sondern an der Planwirtschaft festgehalten habe), betont Frau
Huber diese externen Faktoren stärker und weist dem Westen eine erhebliche
Mitschuld am Scheitern der Perestroika zu: so hätten die Amerikaner die ersten
Reformen Gorbatschows nicht honoriert. Deren Forderungen, die Marktwirtschaft in
Russland einzuführen, hätten nicht bedacht, dass die Voraussetzungen dafür -
wie Mentalität und Kompetenz, korrekte Buchführung und ein marktkonformes
Rechtssystem - nicht vorhanden waren.
Natürlich erwähnt Huber auch die hausgemachten Fehler Gorbatschows:
insbesondere sei das Heer von Planern und Organisatoren in der Tat auf die
Reformen unzureichend vorbereitet gewesen. "Den meisten fehlte es am
nötigen Fachwissen über das Funktionieren einer modernen Wirtschaft." Es
gab zu wenig qualifizierte Fachkräfte, da diese zu schlecht bezahlt wurden.
Insgesamt habe die neue Wirtschaftspolitik "voluntaristische Züge"
getragen. Weniger stark als bei Simon wird auf die entscheidende Wirkung der
Inflation hingewiesen, die 1991 auf 300-500 Prozent (Simon) geschätzt wurde.
Kritisch geht Huber mit der Gorbatschowschen Nationalitätenpolitik ins Gericht,
insbesondere mit dem Verhalten der Gorbatschow-Führung bei den Unruhen in
Georgien 1989 und im Baltikum 1990/91, wobei sie Gorbatschow hier nicht aus
seiner Verantwortung entläßt.
Detailliert werden dann die Reformen in der Innen- und Außenpolitik beschrieben
(Rückzug aus Afghanistan, Glasnost im Innern, kulturpolitische
Liberalisierung). Der Machtkampf zwischen Gorbatschow und Jelzin, Verlauf und
Folgen des Putschversuches von 1991, nach der Autorin einer der
"wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte des 20. Jahrhunderts"
werden ausführlich beschrieben. Im Gegensatz zu anderen, hier erwähnten
Publikationen, hält es die Autorin für zu simplifizierend, die These zu
vertreten, die Putschisten seien am mutigen Widerstand der Demokraten im Weißen
Haus gescheitert. Mit Ausnahme von Leningrad habe der Putsch keine Massenbasis
besessen, die Mehrheit der Gebiete, Kreise und alle autonomen Republiken in der
RSFSR seien direkt oder indirekt für die Putschisten eingetreten. Gescheitert
sei der Putsch in erster Linie an der Unentschlossenheit und am
unprofessionellen Vorgehen der Putschisten, die es versäumt hätten, Boris
Jelzin festzusetzen.
Die Entwicklung bis zum Rücktritt Gorbatschows wird nachgezeichnet, die
halbherzige Politik des Westens, insbesondere die amerikanische Weigerung,
Gorbatschow mit Krediten zu helfen (Bush soll gesagt haben, er könne
Gorbatschows ständiges Drängen auf Wirtschaftshilfe nicht mehr hören), wird
verurteilt.
Als Ursachen für das Scheitern der Perestroika benennt die Autorin die
Tatsache, dass die "Fassade der zentralen Lenkung zusammenbrach, weil
Michail Gorbatschow mit der Entmilitarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
ernst machte. Es war nicht mehr nötig - und nicht mehr möglich - , ein
hierarisches System aufrechtzuerhalten, das nur auf ein Ziel ausgerichtet war:
auf den Rüstungswettbewerb mit den USA".
Allerdings fügt die Autorin - kritisch insbesondere die oben genannte
Publikation von Simon reflektierend, hinzu: "Im Westen sind die
militärische Überlastung (nach Simon verschlangen 1991 die Militär- und
Rüstungsausgaben die Hälfte der staatlichen Ausgaben insgesamt und machten
Ende der 80-ger Jahre etwa 200 Milliarden Rubel, rund 20-25 Prozent des
Bruttosozialproduktes aus), die zentralistische Bürokratie und der
technologische Rückstand immer wieder als Hauptgründe des Zusammenbruchs
angeführt worden... Ein konzeptionell überzeugendes Erklärungsmodell steht
noch aus. Walter Laqueur meinte bereits im Jahre 1993, daß ähnlich wie im
Falle des Römischen Reiches sich der Zerfall nicht zwingend erklären lasse.
Daher werde jeder Versuch, die Ursachen in einer bestimmten Krise zu sehen - wie
zum Beispiel in der Wirtschaft oder in der Nationalitätenpolitik-, mit
gewichtigen Gegenargumenten zu kämpfen haben."
Ein wichtiger Grund für den Zusammenbruch des Systems, nämlich die Weigerung
Gorbatschows, Gewalt zur Rettung des maladen Imperiums anzuwenden (dies wird gut
von Brown herausgearbeitet), wird von der Autorin nicht genügend reflektiert.
Überhaupt werden meines Erachtens die Verdienste Gorbatschows und die Bedeutung
seiner Person für den Wandel des Systems zu wenig berücksichtigt. Dieser
Wandel vom totalitären Einparteienstaat zu einem Staat mit "menschlichem
Antlitz" war eindeutig Gorbatschow zu verdanken, wie es gerechterweise
Leonhard, Brown und auch Simon dargelegt haben.
Insgesamt stellt die vorliegende Publikation dennoch eine wichtige Ergänzung zu
den oben genannten Werken dar, wobei insbesondere die kompetente Auswertung von
Sekundärliteratur überzeugt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass Maria
Huber manchmal den "Wald vor lauter Bäumen" nicht mehr sieht und in
der Menge der gebotenen Details der "roten Faden" nicht mehr erkennbar
wird. Hier wäre weniger manchmal mehr gewesen.