Helmut Schmidt hat mit seinem Buch: "Die Mächte der Zukunft" meines
Erachtens ein wegweisendes Buch geschrieben, in dem er an die Thesen seines im
Jahre 2000 erschienenen Werkes: "Die Selbstbehauptung Europas"
anknüpft. Wie in diesem Buch und in seinem Werk: "Globalisierung" aus
dem Jahre 1999 analysiert Schmidt scharf und treffend die gegenwärtigen
Weltprobleme, wobei er die Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländern
als wichtigste globale Gefährdung betrachtet. Daneben skizziert Schmidt die
Folgen der technologischen und ökonomischen Globalisierung, analysiert die
Anfälligkeit der internaionalen Finanzmärkte und sieht als weitere Gefahr die
Auswirkung des internationalen Waffenhandels. Während in: "Die
Selbstbehauptung Europas" das Schicksal Europas im Mittelpunkt von Schmidts
Betrachtungen stand, hat sich der Fokus der Betrachtung aufgrund der Anschläge
vom 11. September 2001 eindeutig in Richtung USA verschoben. Seit dem Wegfall
der sowjetischen Bedrohung habe die militärische und ökonomische Macht der USA
dem Land ein sehr hohes Maß an Unabhängigkeit des außenpolitischen Handels
gegeben. Kein anderer Staat verfüge heute und in den nächsten Jahrzehnten
über ein ähnlich hohes Maß an weltweiter Handlungsfreiheit. Gleichwohl sei
diese Handlungsfreiheit keineswegs unbegrenzt, hierzu existieren - und Schmidt
zeigt dies in erschreckender Deutlichkeit auf - zu viele Krisenherde auf der
Welt. Amerika werde nach der unilateralistischen Politik von US-Präsident
George W. Bush jr. erkennen, dass es - zwar ungewollt, aber allzu leichtfertig -
die Mehrheit der islamischen Gläubigen und die weltweite öffentliche Meinung
gegen sich aufgebracht habe. Wie weit Amerika zu einer primär mulilateral
ausgerichteten Außenpolitik zurückkehre, bleibe jedoch einstweilen offen (S.
107). Vollkommen korrekt bilanziert. Wichtig sei, dass sich die USA offen zu
seinen Interessen bekenne: Aufrechterhaltung der kontinuierlichen Ölversorgung,
Sicherheit Israels, Vermeidung nuklearerer Aufrüstung anderer Staaten und
Proliferaton der Atomenergie. Doch auch gegenüber den anderen Weltmächten,
Rußland, China, Indien, Europa müsse die USA klare Strategien entwickeln.
Diese seinen unklar bzw. ambivalent.
Welches sind nach Schmidt die weiteren "Mächte der Zukunft?" Einmal
sicherlich China und der ferne Osten. China besitze starke wirtschaftliche
Vitalität, wie eine Serie des "Spiegel" über China eindeutig
bestätigt. Schmidts Feststellung, ob die Sorge vor künftiger militärischer
Macht und Machtmißbrauch durch das nuklear bewaffnete China berechtigt sei,
verneint Schmidt aus Überzeugung (S. 140). Dies mag für die derzeitige
pragmatische Führung in Peking gelten. Ob dies aber für alle Zukunft so
bleiben muss, daran scheinen mir Zweifel angebracht zu sein. Allerdings
schildert Schmidt sehr eindrucksvoll die politischen, wirtschaftlichen,
historischen und kulturellen Entwicklungen Chinas, Indiens und des Fernen
Ostens. Wichtigste Übereinstimmung mit den anderen Weltmächten bestehe darin,
dass auch China eine Verhinderung der weiteren Verbreitung nuklearer und anderer
Massenvernichtungswaffen anstrebe.
Denn hier liegen laut Schmidt die Gefahren der Zukunft: Nuklearwaffen im Besitz
von Schwellenländern, terroristische Anschläge auf Metropolen im Zuge der
"neuen Kriege" (Herfried Münkler) seien wichtige Probleme, deren
Lösung offen bleibe, wie er am Ende (S. 225) bilanziert. Nur die anhaltende
Schlüsselstellung der Vereinigten Staaten und Chinas könne als gesichert
gelten. Für die Welt werde von entscheidender Bedeutung sein, ob sich die USA
in Zukunft den Regeln des Völkerrechtes unterwerfen würden (hierzu gibt es ein
neues interessantes Heft: "Aus Politik und Zeitgeschichte B 43/2004)",
welches sich wie Schmidt mit diesen Fragen ausführlich beschäftigt.).
Außerdem werde China im 21. Jahrhundert mit Sicherheit eine Bedeutung erlangen,
die derjenigen der USA gleichkäme. Auch der Westen könne von China lernen.
Deutschland solle sich am weiteren Ausbau des Völkerrechtes beteiligen, am
Ausbau der Institutionen der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates. Ein
ständiger deutscher Sitz im Sicherheitsrat sei allerdings dafür nicht nötig.
Das wichtigste außenpolitische Interesse Deutschlands liege heute in der
Überwindung der Krise der auf 25 Mitgliedsstaaten erweiterten Europäischen
Union. Jeder Fortschritt in der europäischen Integration bedürfe der
vertrauensvollen Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich. Auch wenn die
Europäer in ihrer Integraton erfolgreich wären, würde die Europäische Union
gleichwohl nicht mit den USA konkurrieren können. Dies solle auch kein
europäischer Politiker in unnützer Weise versuchen.
Insgesamt eine interessante Analyse mit Schwerpunkt auf den USA. Sie erscheint
mir manchmal nicht rational-realistisch, wie Schmidt sein Weltbild darstellt,
sondern aus heutiger Sicht, bei der unipolaren Politik von George W. Bush,
äußert optimistisch. Man wird sehen, inwieweit die Prognosen Schmidts
zutreffen werden. Das Buch ist jedoch - wie sein Vorgänger: "Die
Selbstbehauptung Europas" von einer analytischen Klarheit und Denkschärfe,
die dennoch die "großen Linien" erkennbar macht. Schmidt schreibt
sehr lesbar und ist ein Meister der Rhetorik, was manche Schwächen in seiner
Argumentation verbirgt.
Fazit
Insgesamt für mich eine der wichtigsten, ja eigentlich die wichtigste
politische Neuerscheinung eines deutschen Politikers im Jahre 2004. Unbedingt
lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 20. Oktober 2004 2004-10-20 20:20:50