Die Macht des Buches
"Sie sollten sich eine Vergangenheit erfinden und das Ganze
vergessen", empfiehlt das Bundeskriminalamt im September 2002 der Autorin,
nachdem man sie endlich ernst genommen und in ein Zeugenschutzprogramm
aufgenommen hatte. "Das will ich nicht," schreibt sie im Prolog ihres
gleichsam persönlichen wie politisch brisanten Zeitdokuments. "Ich muss
die Wahrheit sagen und sie veröffentlichen, auch wenn es mich aufwühlt, meine
Geschichte zu erzählen, und es mir wehtut, die eigene Naivität und Blindheit
zuzugeben. Es ist meine Art, den Terror zu bekämpfen."
Der Terror, den sie aus nächster Nähe unfreiwillig miterleben muss, beginnt
zunächst wie ein modernes Märchen aus Tausendundeine Nacht: Gutaussehender
Ägypter sucht in Bonn Hilfe bei Kontaktanzeige zwecks Heirat einer deutschen
Frau, trifft dabei deutsche Frau zwecks Hilfe bei Inserat und bei der
Gelegenheit gleich deutsche Frau zum Heiraten. Romanciers und Belletristikern
würde allein diese Konstellation für seitenfüllende Herzerweicher genügen.
Nicht so der Autorin, die unter dem Pseudonym Doris Glück mit ihrem
schonungslosen und ganz realen Erfahrungsbericht sämtliche Märchenseifenblasen
von Aladins Wunderlampe zum Platzen bringt. Als Leser begleiten wir sie aus der
Perspektive einer deutschen Durchschnittsfrau, die uns mitnimmt auf die Reise
einer Verwandlung - und die ist ganz und gar nicht märchenhaft. So verwandelt
sich der Flaschengeist erster Verliebtheit - in dem Buch "Omar"
genannt - nach nur wenigen Jahren harmonischer Ehe schleichend und allmählich
in einen militanten Verfechter des Dshihads, des "heiligen Krieges".
Die freiwillige Annahme des islamischen Glaubens seiner Ehefrau Doris, im Zuge
dessen sie alsdann unter ihrer muslimischen Identität "Aischa"
fungiert (um nicht zu sagen "funktioniert"), kann die Katastrophe
nicht aufhalten.
Die Schlinge zieht sich erst allmählich zu. Das ist Bestandteil einer
Gehirnwäsche, in der die Frau irgendwann selbst glaubt, alles freiwillig und
aus Liebe zu Allah oder zumindest der zu ihrem Ehemann zu tun. So empfindet sie
auch den Zwang der Scharia zwar befremdend, arrangiert sich aber mit einem Leben
unter schwarzen Schleiern mitten im Bosnienkrieg der 1990er Jahre. Unscharf und
aus der Sicht der Stoffschichten des Niqaps vor dem Gesicht erleben auch wir als
Leser die rätselhaften Geschehnisse und die Machenschaften Omars als
Gotteskrieger, Waffenschieber und Verbindungsmann der Mudshaheddin beim Aufbau
eines islamistischen Gottesstaates in Bosnien. "Allein Allahs Wille zählt,
und wenn Allah die Gläubigen zum Dshihad in Bosnien auffordert, dann gehorchen
wir. Hier werden wir einen reinen muslimischen Staat errichten," antwortet
Omar auf die Frage seiner Aischa zum Thema Frieden. Die ist immer noch
überzeugt davon, dass sie alle dort im Auftrag einer humanitären
Hilfsorganisation für Bosnien aktiv sind. Diese wird im Buch fiktiv und aus
juristischen Gründen, wie die Autorin einräumt, HHB (Humanitäre Hilfe für
Bosnien) genannt. Real gemeint sein dürfte damit die Saudi High Commission
(SHC), unter deren Deckmantel das al-Quaida-Netzwerk weltweit seine
Unterwanderung betreibt.
A propos "real": Der Autorin ist nicht nur der Absprung aus dem
Terrornetz gelungen - sie hat auch noch den Mut gezeigt, ihre Erlebnisse
aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Nicht minder mutig der List-Verlag. Er
hat mit dieser Buchveröffentlichung in ein Wespennest gestochen.
Presseberichten anlässlich der Erscheinung der Erstauflage im September 2004
zufolge handele es sich beim Ex-Ehemann der Autorin um den heute mit seiner
Zweitfrau und fünf Kindern in Deutschland lebenden Reda Seyam, der seit langem
von den Kriminalbehörden wegen der mutmaßlichen Finanzierung der Anschläge
2002 auf Bali sowie wegen Verbindungen zum al-Quaida.Netz beobachtet wird.
Noch realer: Im Verlagsprogramm, das im April 2004 gedruckt wurde, hieß der
Titel: "Mundtot. Mein Leben mit einem Gotteskrieger". Pseudonym:
Regina S. Auch das Cover war anders konzipiert. Es zeigte die verschleierte Frau
bis zur Hüfte mit einem Gebäude im Hintergrund. Ebenfalls mysteriös: Die
Neuerscheinung wurde auf der Buchmesse 2004 auf dem Stand des Verlags nicht
ausgestellt. Eine Verlagssprecherin erklärte auf Nachfrage, der Ex-Ehemann der
Autorin (der ja dank der Heirat mit ihr noch die deutsche Staatsangehörigkeit
und einen deutschen Pass besitzt) habe diese verklagt. Sowohl Pseudonym als auch
Cover und zusätzlich einige Textpassagen mussten geändert werden. Dabei hätte
eine simple Google-Recherche genügt, die Identitäten der Protagonisten offen
zu legen. Freilich ungleich schwieriger als nach den aktuellen
al-Quaida-Zensurversuchen, die dieses Buch in meinen Augen noch brisanter,
wertvoller und empfehlenswerter machen!
Fazit
Wie groß muss die Angst des Terror-Netzwerks vor einem Buch sein, um durch
Zensurbestrebungen geradezu Neugier und damit Aufklärung zu provozieren?
Vorgeschlagen von Marianne Kestler
[Profil]
veröffentlicht am 10. Oktober 2004 2004-10-10 14:10:09