Cornelia Funke hat mit dem "Herrn der Diebe" ein außergewöhnlich
beeindruckendes Buch geschrieben, welches Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
gleichermaßen viel Stoff zum Nachdenken gibt.
Prosper flieht mit seinem kleinen Bruder Bo nach dem Tode seiner Eltern aus
Deutschland nach Venedig. Von diesem Ort hatte ihm seine verstorbene Mutter viel
erzählt. Dort trifft er Gruppe von Straßenkindern, Riccio, Mosca und das
Mädchen Wespe, die ihn in ihrem Versteck, einem verlassenen Kino, aufnehmen.
Anführer dieser Gruppe ist der geheimnisvolle Scipio, der sich "Herr der
Diebe" nennt, obwohl er selber noch ein Kind ist. Welches Geheimnis umgibt
ihn?
Die Ereignisse überschlagen sich, als Prospers und Bos Tante Esther einen
Detektiv, Victor, beauftragt, die entflohenen Kinder zu suchen, die sie aufgrund
der Erzählungen ihrer verstorbenen Schwester sogleich in Venedig vermutet.
Durch einen Zufall gerät Victor auf die Spur der Kinder. Diese sind vor ihm
nicht mehr sicher. Zur gleichen Zeit erhalten sie von einem geheimnisvollen
Fremden einen merkwürdigen Auftrag: sie sollen einen kleinen Holzgegenstand
stehlen und ihm abliefern. Welche Bewandtnis hat es mit diesem Utensil und dem
Fremden? Können sie Victor entwischen und ihr ungebundenes Leben
weiterführen?
Das Buch ist außergewöhnlich spannend geschrieben. Die Charaktere der
Hauptfiguren sind glaubwürdig und lebensecht gezeichnet. Außerdem erfährt der
Leser viel über die Schönheit Venedigs. In mir wurde sofort der Wunsch wach,
dorthin zu fahren und mir den plastisch beschriebenen Markusplatz und seine
Löwen anzuschauen.
In dieser genauen Schilderung Venedigs liegt eine Besonderheit dieses
wunderschönen Romans. Die Stadt wird "lebendig", man möchte sich
nicht mehr von ihr trennen.
Ein anderer Aspekt, den Cornelia Funke im Vorwort andeutet und der mehr und mehr
zu einem zentralen Motiv dieser Geschichte wird, ist die unterschiedliche
Sichtweise, die Erwachsene und Kinder von ihrer Welt haben. Die Kinder wollen
erwachsen sein, wollen ihr ungebundenes Leben ohne Bevormundung durch Erwachsene
weiterführen. Gleichzeitig träumen auch Erwachsene davon, wieder Kinder zu
sein. Die Kinder suchen Geborgenheit - aber auch Freiheit. So kommt es am Ende
auch zur Trennung der Gruppe, da ein Teil der Kinder bei netten Erwachsenen
unterkommt, die sich um sie kümmern können, Ricco und Mosca hingegen auf ihre
Unabhängigkeit nicht verzichten wollen und sich ein neues Versteck suchen. Sie
wollen den Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit und Erwachsensein nicht
verlieren.
Cornelia Funke gelingt es wirklich gut, sich in die Sehnsüchte und Wünsche der
Kinder, alles glaubwürdig charakterisierte emanzipierte Individualisten Wortes
"hineinzufühlen". Vielleicht wird dabei das klägliche Leben der
Strassenkinder etwas zu sehr idealisiert. Dies unterscheidet das Buch meines
Erachtens von seinem großen realistischen Vorgänger, der "roten
Zora" von Kurt Held. Außerdem kommen in diesem Roman - im Gegensatz zu dem
Buch von Kurt Held - auch phantastische Elemente vor: ein geheimnisvolles
Karussell, auf welches die Kinder im Laufe der Zeit stoßen, hat magische
Kräfte: es verleiht Erwachsenen die Gestalt von Kindern und verwandelt Kinder
in Erwachsene - der Wunsch nach dem "Anderssein" wird hier auf die
märchenhafte Ebene verlagert.
Fazit
Insgesamt ein vielschichtiges, mehrdimensionales Buch, welches unbedingt
lesenswert macht und Sehnsucht nach Venedig weckt. Mein Lieblingsbuch von
Cornelia Funke.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 10. Oktober 2004 2004-10-10 12:29:25