Alfred Andersch hat in dieser autobiographischen Novelle das Ende seiner
Schullaufbahn geschildert. Andersch, in der Erzählung Kien, wird im Mai 1928 in
griechischer Grammatik geprüft - von seinem Direktor, dem Vater von Heinrich
Himmler, dem späteren Reichsführer SS.
Dieses Buch besticht aufgrund von zwei Faktoren: zum einen schreibt Andersch
einen glänzenden Stil. Ähnlich wie in Thorbergs: "Der Schüler
Gerber" wird hier ein Schulalltag vorgeführt, der in Deutschland leider
lange gang und gäbe gewesen ist. Schüler und Lehrer hatten kein
kameradschaftliches Verhältnis, sondern obrigkeitsstaatliches Denken und
Untertanenmentalität zeigen sich bereits in der Schule. Dem Direktor geht es
nicht um Pädagogik, sondern er hat von Anfang an das Ziel, den ihm unbequemen
Schüler von der Schule zu verweisen.
Der zweite Aspekt ist jedoch ein tiefergehender: dieser humanistisch gebildete,
strenge Direktor ist Vater Heinrich Himmlers, eines bestialischen
Massenmörders, der allerdings im Privaten, wenn man Joachim Fests Studie:
"Das Gesicht des Dritten Reiches" folgt, im Privaten durch äußerste
Pedanz und Spießigkeit aufgefallen ist. Wie kann - so fragte ich mich - ein
Humanist einen solchen Sohn "zeugen"? Aber ist der Vater, der
Direktor, ein Humanist? Nein, er ist - dies macht die Erzählung leider
erschreckend deutlich - eigentlich ein Sadist, jemand, der mit Absicht den
Schüler quält und diesen sein "Gesicht" verlieren lässt -
insbesondere die Fragen nach den familiären Verhältnissen des Schülers machen
dies deutlich.
Ich habe neben dem Buch den - hervorragenden - Film im Fernsehen gesehen. Selten
hat mich ein Buch so gefesselt und "nicht mehr losgelassen". Mir ging
es so: ich dachte, wie gut, dass es heute andere Schulverhältnisse gibt, dass
das Lernen lockerer, leichter und besser geworden ist. Das Buch regt auch zum
Nachdenken darüber an, inwieweit ein menschenverachtender Drill - und hier sehe
ich durchaus auch Parallelen zum Primat des Militärs im Kaiserreich oder auch
zwischen dem Direktor und der Figur des Himmelstoß in Remarques: "Im
Westen nichts Neues" - Menschenverachtung, Hass und Spießertum
hervorbringt. Hat der Direktor des Gymnasiums mit seinem Drill, der "Vater
eines Mörders" mit seinem Sohn Heinrich Himmler das "geerntet",
was er - angeblich im Geiste des Humanismus - gesäht hat? Diese Frage lässt
einen nach dieser Lektüre nicht mehr los.
Fazit
Ein äußerst beeindruckendes Buch.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 02. Oktober 2004 2004-10-02 21:41:05