Karlheinz Niclauß' Klassiker zur Kanzlerdemokratie von 1988 liegt nun in
aktualisierter Auflage vor. Er enthält dadurch eine Bilanz der Kanzlerschaft
Helmut Kohls sowie eine erste Einschätzung der Regierungspraxis von seinem
Nachfolger Gerhard Schröder.
Niclauß begründet in seinem Vorwort, warum er - trotz wissenschaftlicher
Bedenken - an seiner These der Kanzlerdemokratie festhält. Seinen Kritikern,
die den Begriff der Kanzlerdemokratie für überholt halten und diesem eher
Koordinatonsfunktion zusprechen (so prägte Wolfgang Jäger den Begriff:
"Koordinationsdemokratie" in bewußtem Gegensatz zu Niclauß' Werk)
hält Niclauß entgegen, die Koordinationsaufgabe sei ein wichtiger Bestandteil
der Kanzlerdemokratie. Diese zeichne sich nach Niclauß'Ansicht durch fünf
Merkmale verwirklicht: erstens werde sie in verfassungsrechtlicher und
politischer Hinsicht durch das Kanzlerprinzip, gemeint ist das Primat des
Kanzlers durch dessen Richtlinienkompetenz nach Art. 65 Grundgesetz, realisiert.
Zweitens nehme der Kanzler in der größten Regierungspartei eine führende
Position ein. Drittens bestehe ein deutlich erkennbarer Gegensatz zwischen dem
Regierungs- und dem Oppositionslager (für dessen Fehlen er unter Kiesinger
einen Übergang zu einem neuen Regierungstyp, der Koordinationsdemokratie,
mitverantwortlich macht), viertens sei ein deutliches Engagement des
Bundeskanzlers in der Außenpolitik festzustellen und fünftens werde die
politische Auseinandersetzung durch eine starke Personalisierung und durch die
Medienpräsenz des Regierungschefs bestimmt.
Nachdem Niclauß die Etablierung der Kanzlerdemokratie unter Adenauer
konstatiert und beshrieben hat, führt er im Kapitel 2: "Konturen der
Kanzlerdemokratie" (meines Erachtens hätte dieses Kapitel an den Beginn
seiner Ausführungen gehört) die Ursachen der starken Stellung des
Bundeskanzlers an. Seine Position wurde im Rahmen des Grundgesetz als Reaktion
auf die Erfahrungen von Weimar erheblich gegenüber der des Bundespräsidenten
verstärkt. So kann er die Minister selber bestimmen und nur durch
"konstruktives Mißtrauensvotum" abgelöst werden. Weiterhin werden
die anderen oben benannten Merkmale beschrieben, bevor die Entwicklung dieses
Regierungstyps unter Adenauers Nachfolgern von Erhard bis Schröder untersucht
wird. Fazit der interessant geschriebenen und leicht lesbaren Lektüre (meines
Erachtens ein großes Plus des Buches) ist, dass es insbesondere unter Adenauer
die Kanzlerdemokratie gegeben hat, die unter seinen Nachfolgern nie wieder
erreicht wurde. Erhard scheiterte an der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit in
seiner eigenen Partei. Kiesinger konnte seine Richtlinienkompetenz in der
Großen Koalition nicht gegen Brandt und Wehner, um ein Bonmot Helmut Schmidts
zu zitieren, durchsetzen, ohne seinen Sturz zu riskieren. Aber auch die
nachfolgenden Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl konnten ihre
"Richtlinienkompetenz" nicht gegenüber ihren Koalitonspartnern
durchsetzen und Schmidt verlor überdies den Rückhalt in seiner eigenen Partei.
Kohls Plus war genau eben dies: der starke Rückhalt in seiner eigenen Partei.
So sehr ihn dieser stärkte, so sehr trug dieser Faktor aber auch 1998 zu seiner
Abwahl bei, da es gegen seinen Willen nicht möglich war, Kronprinz Schäuble
als Nachfolgekandidat zu installieren. Persönliches Prestige, welches Schmidt
über den gesamten Zeitraum seiner Kanzlerschaft besaß, konnte Kohl erst im
Zuge der Wiedervereinigung und durch seine diesbezügliche Außenpolitik
erreichen. Dieses Prestige ließ aber im Zuge der wahrgenommenen
wirtschaftlichen Misserfolge nach der deutschen Einigung nach und führte zu der
Abwahl Kohls 1998. Schröder sei ein Kanzler, der sich von zahlreichen
Kommissionen beraten lasse und versuche, durch Konsensusrunden zu regieren.
Neben seinem erkennbaren Engagement in der Außenpolitik, der starken durch
Personalisierung geprägten Präsenz in den Medien habe er auch das
Kanzlerprinzip nach dem Abgang Lafontaines schneller als Kohl durchgesetzt. Die
Achillesverse seiner Kanzlerschaft bilde jedoch das Verhältnis zur SPD: der
Zustand der Hauptregierungspartei sei dafür verantwortlich.
Insgesamt eine eindrucksvoll durch Quellen belegte Darstellung, die eine
personale Sicht der Geschichte der Bundesrepublik verrät.
Meine Kritikpunkte sind jedoch in Anlehnung an Klaus von Beyme, dass der Begriff
"Kanzlerdemokratie" die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik
eher verhüllt als darstellt: von Beyme hat in seinem Buch: "Das politische
System der Bundesrepublik Deutschland" (10. Auflage, 2004) gezeigt, dass es
in der Tat mit Wolfgang Jäger eher angebracht ist, von Koordinationsdemokratie
zu reden. Dies gilt um so mehr, als der Bundesrat - wie Niclauß selber
konstatiert - von der Opposition dominiert wird und rund 60% der Gesetze dort
zustimmungspflichtig sind. Adenauer konnte aufgrund seiner Persönlichkeit und
dadurch, dass die Union seit 1953 über die absolute Mehrheit der Mandate im
Bundestag, zwischen 1957 und 1961 auch über die absolute Mehrheit der Stimmen
in der Bevölkerung verfügte, die Kanzlerdemokratie durchsetzen, zumal der
Bundesrat erst mit Begin der sozial-liberalen Koalition als Gegengewicht zur
Regierung wirklich in Erscheinung trat und wahrgenommen wurde. Verhüllt daher
Niclauß Begriff nicht tatsächlich den Sachverhalt eher als dass er zur
Klärung der Verfassungsrealität der Bundesrepublik beiträgt?
Ich hätte mir auch eine stärkere Klärung der Begriffe Kabinettsprinzip und
Ressortprinzip in Bezug auf das Kanzlerprinzip gewünscht. Dies ist in einer
solchen Studie um so notwendiger, als - wie Hesse/Ellwein zu recht bemerken,
alle drei Prinzipien in Art. 65 GG vereinigt sind und seine Widersprüchlichkeit
ausmachen. Ob sich die Kanzlerdemokratie also letztlich als zutreffender Begriff
für die Verfassungsrealität der Bundesrepublik erweist, erscheint mir daher -
auch unter diesem Aspekt - eher zweifelhaft zu sein.
Fazit
Dennoch ein insgesamt anregendes und gut lesbares Buch, wenn man zusätzliche
Literatur, etwa das Werk von von Beyme, zur Ergänzung heranzieht, um auch
andere Sichten der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik zu bekommen
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 09. September 2004 2004-09-09 21:48:05