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Karlheinz Niclauß: Kanzlerdemokratie

Kanzlerdemokratie

von Karlheinz Niclauß
Verlag: Schöningh [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Politik
ISBN-13 978-3-8252-2432-5

Preis: 2,59 Euro bei Amazon.de [Stand: 24. November 2024]
Karlheinz Niclauß' Klassiker zur Kanzlerdemokratie von 1988 liegt nun in aktualisierter Auflage vor. Er enthält dadurch eine Bilanz der Kanzlerschaft Helmut Kohls sowie eine erste Einschätzung der Regierungspraxis von seinem Nachfolger Gerhard Schröder.

Niclauß begründet in seinem Vorwort, warum er - trotz wissenschaftlicher Bedenken - an seiner These der Kanzlerdemokratie festhält. Seinen Kritikern, die den Begriff der Kanzlerdemokratie für überholt halten und diesem eher Koordinatonsfunktion zusprechen (so prägte Wolfgang Jäger den Begriff: "Koordinationsdemokratie" in bewußtem Gegensatz zu Niclauß' Werk) hält Niclauß entgegen, die Koordinationsaufgabe sei ein wichtiger Bestandteil der Kanzlerdemokratie. Diese zeichne sich nach Niclauß'Ansicht durch fünf Merkmale verwirklicht: erstens werde sie in verfassungsrechtlicher und politischer Hinsicht durch das Kanzlerprinzip, gemeint ist das Primat des Kanzlers durch dessen Richtlinienkompetenz nach Art. 65 Grundgesetz, realisiert. Zweitens nehme der Kanzler in der größten Regierungspartei eine führende Position ein. Drittens bestehe ein deutlich erkennbarer Gegensatz zwischen dem Regierungs- und dem Oppositionslager (für dessen Fehlen er unter Kiesinger einen Übergang zu einem neuen Regierungstyp, der Koordinationsdemokratie, mitverantwortlich macht), viertens sei ein deutliches Engagement des Bundeskanzlers in der Außenpolitik festzustellen und fünftens werde die politische Auseinandersetzung durch eine starke Personalisierung und durch die Medienpräsenz des Regierungschefs bestimmt.

Nachdem Niclauß die Etablierung der Kanzlerdemokratie unter Adenauer konstatiert und beshrieben hat, führt er im Kapitel 2: "Konturen der Kanzlerdemokratie" (meines Erachtens hätte dieses Kapitel an den Beginn seiner Ausführungen gehört) die Ursachen der starken Stellung des Bundeskanzlers an. Seine Position wurde im Rahmen des Grundgesetz als Reaktion auf die Erfahrungen von Weimar erheblich gegenüber der des Bundespräsidenten verstärkt. So kann er die Minister selber bestimmen und nur durch "konstruktives Mißtrauensvotum" abgelöst werden. Weiterhin werden die anderen oben benannten Merkmale beschrieben, bevor die Entwicklung dieses Regierungstyps unter Adenauers Nachfolgern von Erhard bis Schröder untersucht wird. Fazit der interessant geschriebenen und leicht lesbaren Lektüre (meines Erachtens ein großes Plus des Buches) ist, dass es insbesondere unter Adenauer die Kanzlerdemokratie gegeben hat, die unter seinen Nachfolgern nie wieder erreicht wurde. Erhard scheiterte an der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit in seiner eigenen Partei. Kiesinger konnte seine Richtlinienkompetenz in der Großen Koalition nicht gegen Brandt und Wehner, um ein Bonmot Helmut Schmidts zu zitieren, durchsetzen, ohne seinen Sturz zu riskieren. Aber auch die nachfolgenden Kanzler Brandt, Schmidt und Kohl konnten ihre "Richtlinienkompetenz" nicht gegenüber ihren Koalitonspartnern durchsetzen und Schmidt verlor überdies den Rückhalt in seiner eigenen Partei. Kohls Plus war genau eben dies: der starke Rückhalt in seiner eigenen Partei. So sehr ihn dieser stärkte, so sehr trug dieser Faktor aber auch 1998 zu seiner Abwahl bei, da es gegen seinen Willen nicht möglich war, Kronprinz Schäuble als Nachfolgekandidat zu installieren. Persönliches Prestige, welches Schmidt über den gesamten Zeitraum seiner Kanzlerschaft besaß, konnte Kohl erst im Zuge der Wiedervereinigung und durch seine diesbezügliche Außenpolitik erreichen. Dieses Prestige ließ aber im Zuge der wahrgenommenen wirtschaftlichen Misserfolge nach der deutschen Einigung nach und führte zu der Abwahl Kohls 1998. Schröder sei ein Kanzler, der sich von zahlreichen Kommissionen beraten lasse und versuche, durch Konsensusrunden zu regieren. Neben seinem erkennbaren Engagement in der Außenpolitik, der starken durch Personalisierung geprägten Präsenz in den Medien habe er auch das Kanzlerprinzip nach dem Abgang Lafontaines schneller als Kohl durchgesetzt. Die Achillesverse seiner Kanzlerschaft bilde jedoch das Verhältnis zur SPD: der Zustand der Hauptregierungspartei sei dafür verantwortlich.

Insgesamt eine eindrucksvoll durch Quellen belegte Darstellung, die eine personale Sicht der Geschichte der Bundesrepublik verrät.

Meine Kritikpunkte sind jedoch in Anlehnung an Klaus von Beyme, dass der Begriff "Kanzlerdemokratie" die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik eher verhüllt als darstellt: von Beyme hat in seinem Buch: "Das politische System der Bundesrepublik Deutschland" (10. Auflage, 2004) gezeigt, dass es in der Tat mit Wolfgang Jäger eher angebracht ist, von Koordinationsdemokratie zu reden. Dies gilt um so mehr, als der Bundesrat - wie Niclauß selber konstatiert - von der Opposition dominiert wird und rund 60% der Gesetze dort zustimmungspflichtig sind. Adenauer konnte aufgrund seiner Persönlichkeit und dadurch, dass die Union seit 1953 über die absolute Mehrheit der Mandate im Bundestag, zwischen 1957 und 1961 auch über die absolute Mehrheit der Stimmen in der Bevölkerung verfügte, die Kanzlerdemokratie durchsetzen, zumal der Bundesrat erst mit Begin der sozial-liberalen Koalition als Gegengewicht zur Regierung wirklich in Erscheinung trat und wahrgenommen wurde. Verhüllt daher Niclauß Begriff nicht tatsächlich den Sachverhalt eher als dass er zur Klärung der Verfassungsrealität der Bundesrepublik beiträgt?

Ich hätte mir auch eine stärkere Klärung der Begriffe Kabinettsprinzip und Ressortprinzip in Bezug auf das Kanzlerprinzip gewünscht. Dies ist in einer solchen Studie um so notwendiger, als - wie Hesse/Ellwein zu recht bemerken, alle drei Prinzipien in Art. 65 GG vereinigt sind und seine Widersprüchlichkeit ausmachen. Ob sich die Kanzlerdemokratie also letztlich als zutreffender Begriff für die Verfassungsrealität der Bundesrepublik erweist, erscheint mir daher - auch unter diesem Aspekt - eher zweifelhaft zu sein.
Fazit
Dennoch ein insgesamt anregendes und gut lesbares Buch, wenn man zusätzliche Literatur, etwa das Werk von von Beyme, zur Ergänzung heranzieht, um auch andere Sichten der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik zu bekommen
7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne

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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 09. September 2004

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