Angie Kim hat es wieder getan: Sie hat eine psychologischen Thriller
geschrieben, der sich in den Köpfen der Figuren und der Leser abspielt. Und wie
schon in ihrem Debütroman "Miracle Creek" bekommen Leser Einblicke in
die Welt der koreanischen Einwandererfamilien in den USA.
Erzählt wird die Geschichte von der Zwillingsschwester Mia, die neben dem
Zwillingsbruder John noch den viel jüngeren autistischen Bruder Eugene hat.
Eugene hat die seltene Gen-Anomalie Angelman-Syndrom. Während die Mutter das
Geld für die Familie nach Hause bringt, kümmert sich der Vater um Eugene.
Eugene sitzt im Rollstuhl und kann nicht sprechen. Aber ob er tatsächlich nicht
sprechen KANN, weiß natürlich keiner. Er spricht einfach nicht.
Eines Morgens ist der Vater verschwunden. Erstaunlicherweise war Eugene offenbar
alleine von ihrem gemeinsamen Spaziergang in den Park zurückgekommen. Mia hatte
zwar Türen und andere Geräusche gehört, aber so richtig hat sie sich nicht
darum gekümmert, ging ihr Vater doch täglich mit Eugene spazieren und kehrte
mit ihm heim. So ist sie einfach davon ausgegangen, dass auch an diesem Tag
beide zurückkamen. Erst wenige Stunden später stellen Mia und John fest, dass
zwar Eugene im Haus ist, aber nicht der Vater. Sie rufen die Polizei.
Jetzt erfolgt eine Odyssee durch Recherchen und das Leben dieser koreanischen
Einwandererfamilie. Auf der Suche nach dem Vater erfahren die Kinder immer
wieder sehr viel Neues aus seinem aktuellen Leben, von dem sie absolut keine
Ahnung hatten. Sie erleben eine Überraschung nach der anderen und werden immer
unsicherer darin, ob sie ihren Vater und auch den kleinen Bruder Eugene
tatsächlich gekannt hatten.
Aufgrund der Ich-Erzählerin, die Angie Kim sehr bewusst gewählt hat, gelangen
die Leser tief in den Kopf dieser Figur. Gedanken und Handlungen verschmelzen,
zumal die Handlungen immer aus ihrer Sicht und mit ihrer Interpretation
geschildert werden. Der Ton ist mehr als plaudernd. Und wie die Erzählerin den
Lesern auch selbst mitteilt, neigt sie zu langatmigen Abschweifungen.
Natürlich: Wenn ihre Gedanken irgendwohin wandern, dann erzählt sie auch das.
Diese Informationen füllen aber das Hintergrundwissen der Leser auf, damit sich
die Spannung in ihren Köpfen vollständig aufbauen kann. Für manchen Leser
wird dies sicherlich zu langatmig sein.
Die Themen dieses Thrillers »Happiness Falls« sind ähnlich denen des
vorhergehenden Romans: die Behandlung von Autismus und das Leben koreanischer
Migranten in den USA.
Mia weist auf ihre Abschweifungen hin und merkt an, dass sie diese auch gerne in
Fußnoten von ihrer eigentlichen Schilderung ausklammert. Das wurde von Autorin
und Verlag entsprechend auch mit Fußnoten umgesetzt, die mir persönlich nicht
gefallen habe. Ich halte absolut nichts von Fußnoten in fiktiven Romanen.
Solche Extraerläuterungen sollte ein Autor immer im normalen Text unterbringen
können. In dem vorliegenden Roman sind die Fußnoten auch nur ein stilistisches
Mittel eingesetzt und gewollt, um die gedanklichen Abschweifungen zu
unterstreichen. Schließlich geht es im normalen Text wie auch in den Fußnoten
immer um die Gedanken von Mia.
Die Spannung in »Happiness Falls« erhöht sich letztendlich mit jeder
Überraschung, mit jeder nie vorausgeahnten Information im Verlauf der Suche
nach dem Vater. Das ist umwerfend gemacht. Die einfachen und simplen Gründe
(Unfall, Entführung, Verlassen der Familie), warum der Vater verschwunden und
der kleine Bruder allein zurückkehren konnte, können nach kurzer Zeit schnell
zu den Akten gelegt werden. Die wahren Gründe dafür werden wie bei jedem Roman
zum Ende dargeboten und können so einige Rauchbomben in den Köpfen der Leser
zünden.
Neben den Informationen zu den koreanischen Einwanderern hat Angie Kim
umfangreiche Informationen zu dem Krankheitsbild des Eugene untergebracht. Dies
ist eine enorme Rechercheleistung. Obwohl diese Informationen durchaus
interessant sind, bin ich der Meinung, dass sie nicht ganz so umfangreich
hätten ausfallen müssen. Auch mit weniger wissenschaftlichen Argumenten wäre
die Suche sehr spannend geblieben.
Dialoge zwischen den Figuren sind eher selten, da Mia sie aus ihrer Erinnerung
heraus reproduzieren müsste. Der Spannung schadet es auf keinen Fall, weil man
als Leser einfach nur mit Mia mitdenkt und versucht, ihre Ansichten und
Begründungen nachzuvollziehen.
Und noch etwas ist in »Happiness Falls« besonders: Er enthält Grafiken und
Bilder, mit denen die wissenschaftlichen Thesen untermauert werden sollen.
Grafiken, Tabellen, Strichlisten und Notizen, damit sich die Leser ein besseres
Bild machen können.
Fazit
Der Thriller »Happiness Falls« sorgt bis zum Ende für Spannung und berührt
Themen, die einem normalerweise nicht begegnen, es sei denn, man hat persönlich
mit ähnlich Betroffenen zu tun. Daher kann ich ihn ruhigen Gewissens empfehlen,
trotz der manchmal zu wissenschaftlich anmutenden Ausführungen. In meinen Augen
zählt die koreastämmige Angie Kim zu den Top-Damen des Thriller-Genres!
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 16. April 2025 2025-04-16 09:28:55