"Wir haben für das Kaiserreich gelogen und gemordet und es eine
Zivilisierungsmission genannt"
Mit dem Roman "Nachleben" knüpft der britisch-tansanische
Schriftsteller Abdulrazak Gurnah an seinen ersten historischen Roman " Das
verlorene Paradies" an. In beiden Büchern beschreibt er die Geschichte
seines Heimatlandes, damals das Sultanat Sansibar, heute tansanisches
Staatsgebiet. In einer ruhigen, klaren Sprache reflektiert er in
"Nachleben" die Historie des Landes am Schicksal seiner vier
Protagonisten Khalifa, Ilyas, Hamza und Aysha. Hamza ist der Mittelpunkt und
identisch mit der Figur Yusuf, dem Protagonisten in dem Roman " Das
verlorene Paradies".
Abdulrazak Gurnah beginnt seinen Roman mit einem kurzen Rückblick in die
vorkoloniale Zeit Ende des 19. Jahrhunderts um anschließend bis in die 1960er
Jahre in die Kolonialzeit in Ostafrika überzugehen. Detailliert erzählt der
Autor die grausame und menschenverachtende Haltung der Deutschen gegenüber der
einheimischen Bevölkerung. Trotzdem treten die beiden jungen afrikanischen
Männer Hamza und Ilyas in die deutsche Schutzgruppe als Soldaten ein. Dort
erleben sie am eigenen Leib die Brutalität und Überheblichkeit der deutschen
Invasoren gegenüber ihren Untertanen. Das Ende des ersten Weltkrieges beendete
nach der Niederlage von unbarmherzig geführten Kämpfen gegen die britischen
Kolonialisten die Herrschaft der Deutschen in Ostafrika. Nachdem der Beginn des
Buches zum Teil schwer erträglich zu lesen war, lassen die kommenden Seiten die
LeserInnen aufatmen. Der Schriftsteller vermittelt im Folgenden ein umfassendes
Bild über die Zeit des britischen Protektorats in Ostafrika. Unter einer
weitaus humaneren Führung kommt es zu einem Strukturwandel afrikanischer
politischer, wirtschaftlicher und sozialer Systeme. Während Ilyas nach dem
Krieg verschollen bleibt, kehrt Hamza mittellos in seine alte Heimatstadt
zurück. Geschickt verbindet der Autor Hamzas weiteren Werdegang mit der
Lebensweise einer afrikanischen Familie, die zeigt, daß es bereits vor der
Invasion durch Araber und Europäer ein geregeltes, zivilisiertes und
religiöses Leben in Afrika gab. Hier fände der Roman einen schönen Abschluß.
Aber dabei belässt es Abdulrazak Gurnah nicht. In diesem letzten Abschnitt
wechselt der Autor von einer literarischen Romangestaltung über zu einem mit
historisch belegten Fakten informativen Schreibstil. Der Schriftsteller beendet
den gut recherchierten historischen Roman mit einem Blick nach Deutschland
während des Nationalsozialismus. Hier erfahren die LeserInnen sowohl deren
Interesse an einer Rekolonisierung als auch den weiteren Lebensweg von Ilyas,
der im realen Leben Bayume Mohamed Husen hieß.
Abdulrazak Gurnah wurde 1948 im ehemaligen Sultanat Sansibar geboren. Mit 18
Jahren floh er aus politischen Gründen nach Großbritannien. An der Canterbury
Christ Church University begann er englische Literaturwissenschaften zu
studieren, das er 1982 mit einer Promotion an der University of Kent abschloss.
Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Nigeria kehrte er zurück an die
University of Kent. Dort lehrte und forschte er über postkoloniale Literatur,
insbesondere mit Bezug zu Afrika, die mit dem Kolonialismus verbunden war. Der
Schriftsteller gilt als einer der bekanntesten Vertreter der ostafrikanischen
Literatur. 2021 erhielt er für seinen ersten historischen Roman "Das
verlorene Paradies" den Nobelpreis für Literatur. Heute lebt er in
Canterbury, Kent.
Fazit
Abdulrazak Gurnah bewegt sich auf festem Grund der historischen Überlieferung.
Sein historischer Roman "Nachleben" ist eine zeitgemäße Lektüre,
die sich gut in postkoloniale Debatten einfügen lässt.
Vorgeschlagen von Heike Jaschhof
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veröffentlicht am 22. Oktober 2024 2024-10-22 19:08:31