In diesen Tagen hat sich ein trauriger Jahrestag zum 90. Mal ereignet - der
Beginn des Ersten Weltkriegs, dieser "Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts" - denn für viele Historiker war dieser Weltkrieg die
Ursachen aller Übel des 20. Jahrhunderts. Vor dessen Beginn existierten zwar
überall fast fühlbare Spannungen zwischen den Großmächten
(deutsch-französische Spannungen; das Wettrüsten zwischen England und
Deutschland; die Balkanfrage), aber es war auch eine Zeit des positiven
Aufbruchs. Nach diesem Krieg sollte nichts mehr so sein wie vorher. Die von den
Deutschen als zu hart und von den Franzosen als zu schwach empfundenen
Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles legten bereits den Grundstein
für einen deutschen Revanchekrieg. Für die Engländer ist der Erste Weltkrieg
noch heute der "Große Krieg", in dem sie mehr als doppelt so viele
Soldaten in den mörderischen Stellungskämpfen verloren haben als im gesamten
2. Weltkrieg.
Es existieren zahlreiche Abhandlungen zum Thema 1. Weltkrieg. Seit kurzem liegt
sowohl ein neuer Band im Rahmen der 10. Auflage des "Gebhardt"
(verfasst von dem angesehenen Historiker Wolfgang Mommsen) als auch zahlreiche
Studien anderer Forscher vor. Viele von ihnen beschäftigen sich mit der
Mentalitätsgeschichte, von dem Wandel der Werte und sozialen Fragen. Es
existiert auch eine interessante "Kurze Geschichte des Ersten
Weltkriegs" aus der Feder von Michael Howard und eine vorzügliche
Enzyklopädie zu diesem Thema herausgegeben von Gerhard Hirschfeld. John Keegan,
Nestor der neueren Militärgeschichtsschreibung, hat sich in dem vorliegenden
Buch ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt. Keegans Metier ist die
Militärgeschichte, die Planung und Entwicklung von Schlachten, die
Militärstrategie - und dieses Feld beherrscht er meisterlich. Allerdings geht
er in diesem Buch kaum auf kulturelle Fragen ein. Der Schwerpunkt ist bei ihm
die militärische Entwicklung dieses Krieges. Beginnend mit den verschiedenen
Szenarien, die die Militärs der Großmächte entworfen hatten (darunter der
berühmte "Schlieffenplan"), zeichnet Keegan ein Bild der Entwicklung
dieses Konflikts.
Nach Keegan war das Tragische an diesem Krieg, dass er seiner Meinung nach
jederzeit hätte vermieden werden können. Es war kein unausweichlicher Krieg,
sondern einer, der bewusst mit einem kalkulierten Risiko in Kauf genommen wurde.
In zehn Kapiteln beleuchtet Keegan diese Entwicklung. Die ersten drei Kapitel
dienen als eine Art Prolog, während im vierten bereits die Marneschlacht
nachgezeichnet wird, die den deutschen Vorstoss nach Nordfrankreich zum Stehen
brachte. Es folgen Kapitel über die wechselhaften Kämpfe im Osten und den
Stellungskrieg im Westen, wo es dennoch zu blutigen Kämpfen kam (Verdun;
Somme-Offensive). Dem schließt sich eine zusammenfassende Darstellung der
Kämpfe in Übersee, der Großoffensiven und dem Krisenjahr 1917 an, als die
französische Armee beinahe zusammenbrach und in Rußland die Revolution
ausbrach. Doch dann kam es zum Kriegseintritt der USA, der erfolglosen deutschen
Offensive 1918 und der sich bald daran anschließenden alliierten
Gegenoffensive, die zum Zusammenbruch der deutschen Westfront führte - und
damit auch zur Bitte um Waffenstillstand.
Keegan beleuchtet auch die Seekriegsführung und die Kämpfe an den
Randgebieten. Eingestreut sind auch wirtschaftliche und sozial-kulturelle
Entwicklungen, aber sie werden nicht vertieft. Dafür ist die Darstellung der
Militärgeschichte meiner Meinung nach hervorragend gelungen, wenn man sich auch
manchmal einen etwas objektiveren Blickwinkel gwünscht hätte.
Keegan betont die Wunden, die dieser Konflikt hinterließ. Die Deutschen sinnten
auf Rache für den "Schmachfrieden von Versailles", während die
Probleme in Osteuropa erst begannen. Dennoch weist Keegans Darstellung Lücken
auf. Er betrachtet die Ereignisse vornehmlich aus englischer Perspektive (was
man ihm nicht unbedingt vorwerfen kann), er zieht dabei aber kaum deutsches oder
anderes Forschungsmaterial mit ein (was man ihm wohl vorwerfen muss). Oder die
Bewertung der Seeschlacht im Skagerrak 1916: Für Keegan war es ein englischer
Sieg (S. 381 f.). Strategisch trifft dies sicherlich zu (denn die Blockade wurde
von der deutschen Hochseeflotte nicht gebrochen), taktisch verloren die
Engländer aber mehr Männer und Material, trotz ihrer Überlegenheit, und
konnten die deutsche Flotte nicht vernichten. Die Darstellung über die
Ereignisse im November 1918 und danach in Deutschland ist (vorsichtig
ausgedrückt) sehr, sehr konservativ, wenn nicht gar überholt (S. 575 ff.).
Auch ein Blick in die Bibliographie verrät, dass sich Keegan kaum mit der
diesbezüglichen deutschen Forschung vertraut gemacht hat. Dies ist bedauerlich
und schwächt den guten Eindruck, den die militärgeschichtliche Darstellung
beim Rezensenten hinterliess.
Dennoch wird deutlich, was eigentlich allgemeine Forschungsmeinung ist: der
Erste Weltkrieg hatte verherrende Folgen für Europa und die Welt. Er löste
keines der Probleme und verursachte nur neuen Hass. Vor allem wiegten sich die
Sieger nur in einer trügerischen Ruhe - Deutschland rüstete derweil wieder auf
und forderte Revanche. Der Zweite Weltkrieg sei demnach eine Fortsetzung des
Ersten Weltkrieges (S. 587); wobei man Keegan vorhalten muss, dass er diese
Überlegungen hätte vertiefen müssen. Es ist auch bedauerlich, dass der
Frieden von Versailles nicht eingehend in diesem Buch untersucht wurde.
Fazit
Insgesamt bleibt beim Rezensenten ein zwiespältiger Eindruck zurück. Wer sich
nur über die Militärgeschichte informieren will, der ist mit diesem Buch gut
bedient; der diesbezüglich geneigte Leser kann ruhigen Gewissens das Buch als
einen 8 Sterne Kandidaten betrachten. Alle anderen sollten jedoch zu den zu
Beginn der Rezension genannten Büchern greifen bzw. sie ergänzend und
abwägend hinzuziehen.
Vorgeschlagen von B. Kiemerer
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veröffentlicht am 07. August 2004 2004-08-07 13:15:15