Jacques Le Goff ist einer der einflussreichsten noch lebenden Mediävisten.
Seine Werke zeichnen sich meistens durch eine enge Vernetzung von Kultur- und
Sozialgeschichte aus (beispielsweise sein Band in der Reihe "Fischer
Weltgeschichte, Bd. 11, Das Hochmittelalter"). Im Rahmen der Reihe
"Europa bauen", dessen Herausgaber er ist und das in Deutschland beim
renomierten Verlag C.H. Beck erscheint, befasst er sich selbst in diesem Buch
mit der "Geburt Europas im Mittelalter". Der Titel hat im Deutschen
den Klang einer Feststellung - im Original war es noch als Frage formuliert.
Im vorliegenden Fall muss der Rezensent mehrere Vorbemerkungen machen. Es muss
angemerkt werden, dass Le Goff selbst mit diesem Essay (gegliedert in sechs
Kapiteln) keine erschöpfende Geschichte des Mittelalters schreiben wollte (S.
13) - was auch kaum möglich gewesen wäre, schon gar nicht in einem für den
Laien nicht ermüdenden Umfang. Le Goff geht einer Grundfrage nach: wie
entwickelte sich Europa in dem Zeitraum der endenden Spätantike und dem Beginn
der Neuzeit, also zwischen dem 4. und dem Ende des 15. Jahrhunderts. Wer
folglich Informationen über die ronkalischen Gesetze und die Wechselseitigkeit
von Imperium und Sacerdotium, oder Antworten auf Fragen der
Verfassungsgeschichte in diesem Buch sucht, der wird nicht fündig werden. Jeder
aber, der sich Gedanken darüber macht, was Europa war und was es in Zukunft
sein könnte, der wird gewiss einige Anregungen darin finden.
Im ersten Kapitel geht Le Goff zurück in die Zeit der Spätantike, dessen Rolle
er für den Transformationsprozess des Mittelalters mit Recht hoch einschätzt
(es sei in diesem Zusammenhang auch auf das Buch von einem der renomiertesten
Historiker für die Zeit der Spätantike hingewiesen: "Peter Brown, Die
Enstehung des christlichen Europas", ebenfalls beim Verlag Beck in der
Reihe "Europa bauen"). Dabei wird vieles allerdings nur knapp
skizziert, was aber durchaus dem Charakter des Buches und der Intention des
Autors entspricht. Die Zeit der Karolinger, oft als eine Geburtstunde des
abendländischen Europas gefeiert wird, wird relativ ausführlich abgehandelt,
wobei sich der Rezensent gewünscht hätte, Le Goff wäre etwas näher auf Karl
den Großen und den Mythos des "ersten Europäers" eingegangen.
Besonders anregend zu lesen waren allerdings die Kapitel IV. und V., wo das
"feudale Europa" und das "schöne Europa" behandelt wird.
Hier widmete sich Le Goff vor allem den sozialen Entwicklungen, wie der
Entwicklung des Lehnswesens, der Expansion der Städte, der Zunahme der
Wirtschaftskraft und den Universitäten - einer originären Schöpfung des
Mittelalters. Wohltuend verzichtet Le Goff auf eine Abfolge von Königen und
Schlachten, auch wenn dies vielleicht auf den Laien denn manchmal auch etwas
unübersichtlich wirken mag. Gerade der Wandel der Werte und der Wandel Europas
an sich, welches sich im 13 und 14. Jahrhundert immer mehr öffnet, ist
anschaulich und gut leserlich beschrieben. Vor allem wird klar: es hat nicht ein
Europa im Mittelalter gegeben, sondern eines der vielen Gesichter.
Den Abschluss bildet die überseeische Expansion die damit das Ende des
Mittelalters einläutete. Dabei verzichtet Le Goff allerdings auf die
Einbeziehung der Reformation, was sich allerdings mit Le Goffs Europabegriff
erklären lässt (der vor allem eine territoriale Komponente beinhaltet, siehe
S. 265). Es schließt sich ein (extrem) rudimentärer Anmerkungsapparat und eine
recht gut sortierte Auswahlbibliographie an.
Die Grundthese von Le Goff, dass Europa von der Antike über das Mittelalter in
die Neuzeit vermittelt wurde, bleibt aufgrund des kursorischen Charakters des
Essays lückenhaft, aber dennoch eine höchst anregende Überlegung, die kaum
weniger überzeugend ist als die Gegenthese, die von einem neuzeitlichen Europa
als Kern unseres Europas ausgeht.
Fazit
Le Goffs Werk ist kein Meilenstein der Geschichtsschreibung - aber als solches
war es auch nicht entworfen. Le Goff wollte Europas Entwicklung im Mittelalter
skizzieren. Dies ist ihm auch meiner Meinung nach durchaus gelungen. Die
Wesenszüge Europas werden gut sichtbar herausgearbeitet; zudem ist das Werk gut
geschrieben. Allerdings wird weder die Bedeutung der Juden, die im Mittelalter
eine bedeutende Rolle spielten, noch die Bedeutung der Muslims in Europa noch
das Byzantinische Reich ausreichend gewürdigt. Zwar wollte Le Goff vor allem
das abendländische Europa beschreiben, dennoch bleiben damit viele Erklärungen
im Ansatz stecken. Als Denkanstoss ist Le Goffs Werk allerdings eine willkomene
Bereicherung. Der interessierte Leser, der noch dazu ein interessierter
Europäer ist, wird aus diesem Buch sicherlich Gewinn ziehen, sofern er keine
erschöpfende und forschungsnahe Auseinandersetzung mit dem Europa des
Mittelalters erwartet - aber für diesen Leser war das vorliegende Buch eben
auch nicht bestimmt.
Vorgeschlagen von B. Kiemerer
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veröffentlicht am 06. August 2004 2004-08-06 18:53:06