Sammelband wichtiger politischer Artikel unter nicht ganz passendem Titel
Es sind 33 politische Momente, Situationen, Anlässe, aus denen heraus seit
Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die im vorliegenden Werk
versammelten Texte, Reportagen, Essays Kermanis entstanden sind. Dabei, wie die
Zeitspanne schon aufzeigt, geht es eher weniger um das, "was jetzt möglich
ist", wohl aber um grundlegende Strukturen und Bedeutungen einzelner
Momente und Ereignisse und ihre breite Verzahnung in zunächst gar nicht im
Blick stehende andere Abläufe und Ereignisse, die Kermani unnachahmlich
herauszuarbeiten versteht.
Eine Herangehensweise und ein tieferes Verständnis der "Vernetzungen"
zunächst abgegrenzt erscheinender Ereignisse und Momente, in welchen die
sprachliche und intellektuelle Kraft Kermanis deutlich erkennbar werden. Und
Texte, die dem Leser und der Leserin immer wieder über das konkrete Thema
heraus die Augen öffnen für die tieferliegenden Bedeutungen des Geschehens. In
der Situation und für den "Rest der Welt".
Angefangen 1993 beim erzwungenen "Scheidungsurteil" gegen Nasr Hamid
Abu Zaid, in dem die dogmatische Politisierung des Koran und des Islam über den
konkreten Ort hinaus bereits deutlich wird (und in den folgenden Jahren immer
offenkundiger vor Augen trat, mit weitreichenden Folgen), bis hin zum Krieg in
der Ukraine als brennende Gegenwart, (mitsamt einem Rückgriff einige Seiten
zuvor, wie der Abzug des Westens aus Afghanistan vielleicht einer der Tropfen
war, der Wladimir Putin noch überaus ermutig hat für diesen schrecklichen
Schritt in einen "heißen Krieg" hinein.
Mit Folgen für die bis dato bestehende Religionsgemeinschaft zwischen der
orthodoxen Kirche Russlands und der Ukraine, mit Folgen eines
"Abbruchs" weltweit, einer noch nicht zu übersehenden Schar von
Folgen und Konsequenzen, die Kermani nicht populistisch oder als bereits
"Wissen" vor Augen legt, sondern als Implikationen, als Beobachtungen
"durch die Nacht" in der Ukraine, als offene Fragen und doch bereits
deutliche Assoziationen.
Die aber auch kleine Funken noch in sich tragen, wenn ein ukrainischer
Überlebender sagt: "Das waren Leute wie wir".
Sei es also der Blick auf den Islam, auf den Bau der Kölner Moschee, das
Minarettverbot in der Schweiz als "absage an den europäischen Weg",
sei es die schwierige und doppeldeutige Haltung Europas, die das
"Mittelmeer als Massengrab" eine neue, traurige Berühmtheit erlangen
lässt. Oder sei es im Blick auf China und seinen Weg in der Moderne, die Folgen
des Rückzugs aus Afghanistan samt einem zu konstatierenden "deutschen
Desinteresse" an der Welt. Navid Kermani legt den Finger in "Wunden
der Welt", in offene, durchaus aber auch in jene, die man noch gar so klar
im Blick gehabt hat, noch nicht als so offen und schwärend wahrgenommen
hatte.
Dass die Ukraine 1993 Atomwaffen abgab, Sicherheitsgarantien erbat und nicht
bekam und dass so ein brutaler Krieg, der die Welt heute mit immensen Kosten
auch durcheinanderwirbelt, vor 30 Jahren vielleicht in einer, aus
westeuropäischer Sicht eher lästigen, unbequemen, "Randfrage" im
Vorhinein hätte verhindert werden können.
Fazit
Es sind diese langfristigen Zusammenhängen, die Kermani zu Zeiten bereits
andeutete, erahnte, herstellte und die nun im Nachgang als reinweg folgerichtig
sich aus den verschiedenen Texten herauslesen lassen. So dass am Ende, indirekt,
der Titel doch wieder zu seinem Recht kommt. "Was jetzt möglich ist"
erschließt sich systemisch in all dem, was bisher passiert ist. Eine
interessante, wichtige und sprachlich überaus überzeugende Lektüre.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 25. März 2023 2023-03-25 15:22:00