Wie die Erfahrungen das Innere der Menschen prägten
Es wurde die Zeit eines "Wirtschaftswunders" nach den Kriegsjahren
etwa ab 1950. Es war eine klar gegliederte Gesellschaft mir erkennbar
traditionellen Werten was die Rollen von Mann und Frau, den hohen Stellenwert
der Arbeit, der Vereine, der ganzen Gesellschaft anging. Aber es waren auch
Zeiten, in denen das heutige Wissen über Traumata, über
"Verdrängung", über die Prägung durch fanatische Ideologien und
danach durch Gewalt, Krieg, Zerstörung, abwesende Väter, durch Erfahrungen von
mannigfaltigen Luftangriffen im Bunker ausharrend zu ertragen, von Hunger und
Kälte und Ruinenfeldern in den ersten Jahren nach dem Krieg, in denen ein
solches wissen über psychische Probleme nicht vorhanden war und auch im Denken
der Menschen kaum eine Rolle spielte. Und all dieses wurde prägend auch an die
nachfolgende Generation weitgehend unbewusst mit weiter gegeben und getragen.
Wie sich dies auswirkt, was davon alles lange Zeit noch nachhaltig das
gesellschaftliche Miteinander prägte, wie auch "Auflehnungen" (die
68er und andere Bewegungen) ihren Platz in dieser Gemengelage aus unbewussten
Prägungen und Erfahrungen der Kriegszeit bis heute in finden und nachwirken,
davon berichtet dieses flüssig zu lesende und fundiert verfasste Buch. Das sich
auf vielfache biographische Zeugnisse unterschiedlicher Menschen stützt, die
Miriam Gebhardt sorgfältig auswertet und in einen großen Zusammenhang zu
stellen versteht.
Um mit dem zu beginnen, was vielleicht die stärksten Antriebskräfte hinter dem
raschen Aufschwung, dem hohen Wert der Arbeit, dem sichtbaren Fleiß der
Menschen, die jede Überstunde gerne mitnahmen, zu erkennen ist: "Diesen
Lebenshunger, dem mein Vater verspürte, empfinden viele seiner
Generation". Es wurde "ge-völlt" was das Zeug hielt, große
Portionen, Fleisch, Mettigel, Volksfeste, Kellerbars, Zeiten, in denen alles
dafür getan wurde, um am "Wirtschaftswunder" teilzuhaben, sich die
glänzenden, schicken Dinge leisten zu können und sich das "Leben
einzuverleiben". Endlich wieder.
"Sie haben viel konsumiert und tun es noch" - aber auch das gilt:
"So haben sie in jungen Jahren viel Stoff für Trauer und Angst
angesammelt".
Natürlich läge es nun nahe, die einfachen Schlüsse zu ziehen, den
"Lebenshunger" und die "Konsumlust" als Flucht vor den
eigenen, dunklen Gefühlen und entbehrungsreichen Erfahrungen zu verstehen. Doch
Gebhardt bleibt bei solche einfachen Ursache-Wirkung- Zusammenhängen nicht
stehen, sondern entfaltet in vielfacher Hinsicht ein differenziertes Bild über
die vielfachen kleinen und großen emotionalen Erfahrungen, mit denen jene
"Kriegskinder" die Welt danach nachhaltig prägten. "Aber wir
können noch einen Schritt weitergehen und uns fragen, as davon ins selbst in
den Knochen steckt". Und auch das ist nicht wenig.
Fazit
So ergibt sich bei der Lektüre zu den grundlegenden Themen wie "die
Kinderfrage " (das starke Absinken der Geburtenrate in der Generation der
Babyboomer und bis heute), über den Mangel an "Ausdruck von
Gefühlen" (die schienen aufgrund der Kriegskindererfahrungen tief nach
unten verborgen worden zu sein), Sex und Liebe (Prüde gegen
"über-Frei"), das Verständnis der Rolle der Frau (bis weit in die
60er und 70er Jahre hinein sehr starr), oder auch das Selbstverständnis der
Männer ("Oberhaupt") ein vielfacher Blick auf teif verankerte,
weitgehend unbewusst geprägte Werte der Gesellschaft bis heute.
Eine überaus interessante, gut zu lesende und wichtige Lektüre, um nicht nur
die Welt von damals, sondern auch deren Prägungen für die Gegenwart zu
verstehen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 22. Juni 2022 2022-06-22 15:03:45