Ein sensibles und schwieriges Thema (um den Begriff "heikel" einmal zu
vermeiden) greift die Autorin Charlotte Wiedemann im vorliegenden Buch auf.
Letztendlich dreht es sich um die Frage um die Einordnung des Holocaust unter
Beachtung der Genozide, die im Verlauf v.a. der jüngeren Geschichte
stattfanden. Mutig vom Propyläen-Verlag, der insbesondere im Genre historischer
Literatur renommiert ist, und ebenso mutig von der Autorin, die als
Auslandsreporterin und Publizistin über den notwendigen "Weitblick"
verfügt.
Den Mittelpunkt der Betrachtungen nimmt der Holocaust ein. In den Augen der
Deutschen aus leicht nachvollziehbaren Gründen, das größte Verbrechen der
Menschheitsgeschichte. Auch die Frage: was ist unter dem Holocaust zu verstehen,
wird nicht aus den Augen verloren. In den KZ starben jüdische Mitbürger in
unfassbar großer Zahl, aber beispielsweise auch Sinti und Roma (deren Tötungen
als "Porrajmos" bezeichnet werden) und weitere Gruppierungen, die
nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passten. Vorsätzlicher Mord - ein
singuläres Merkmal des Holocaust?
Den Blick erweitern Betrachtungen zu weiteren Genoziden, die an anderen Orten
(vor allem auf dem afrikanischen Kontinent) stattfanden und ebenso millionenfach
unschuldigen Menschen das Leben kosteten. Als Täter traten auch hier vielfach
Europäer auf, die im Rahmen der Kolonialisierung Gewalt gegen ethnische Gruppen
ausübten. Charlotte Wiedemann bewertet weniger, sie kämpft mit sich selbst.
Ist ein Opfer des Holocaust anders zu (be-)werten, als das Opfer eines anderen
Genozids?Eine tragische und geradezu unmenschliche Frage zugleich.
Fazit
Mit dem vorliegenden Band wirft die Autorin einen eigenen Blick auf eine
Fragestellung, die mittlerweile als "Neuer Historikerstreit"
(traurige) Furore gemacht hat. Wer sich hierzu genauer informieren möchte,
findet im Buch eine Reihe von Literaturhinweisen, die einen vertieften Blick auf
die Fragestellung erlauben und es somit ermöglichen, selbst Position zu
beziehen.
Ja, gefühlvoll geht die Autorin das hochsensible Thema an. Zumindest wenn es um
den Holocaust geht, empfinde ich die Deutungen der Autorin bemerkenswert, würde
mich in verschiedenen Details ihren Wertungen jedoch nicht anschließen. Auch
wenn mich die zweifelsohne gefühlvollen Schilderungen vergleichbarer Verbrechen
tief berührt haben, so würde ich mich aus verschiedenen Gründen nach wie vor
auf die Seite derer schlagen, die dem Holocaust eine historische Singularität
einräumen. Und selbstverständlich bin ich mir dabei bewusst, dass ich diese
Wertung aus deutscher Sicht betrachte.
Ein schwieriges Thema, dass bedauerlicherweise an Aktualität nichts verloren
hat. Mein Geschichtsbild wurde durch die Ausführungen der Autorin und der
inhaltlichen Auseinandersetzung gefestigt.
Vorgeschlagen von Dietmar Langusch
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veröffentlicht am 19. Juni 2022 2022-06-19 13:41:49