Alejandro Vidal findet als Historiker keine Stelle und arbeitet stattdessen als
Content Analyst für CleanContent, die spanische Niederlassung des international
agierenden Konzerns ThinkContent. Ein "Cleaner" beseitigt unter
höchster Geheimhaltung den Schmutz des IT-Zeitalters. Er oder sie löscht im
Auftrag von IT-Konzernen in Sozialen Medien kinderpornografischen,
terroristischen und weiteren illegalen Content. Damit CleanContents Auftraggeber
ihre Zielgruppen möglichst lange am Rechner halten können, müssen jedoch
stets auch grenzwertige Inhalte durch die Zensur gelangen. Alejandros Leistung
lässt sich mit Algorithmen überwachen und auswerten, so dass er nicht einfach
alle Bilder löschen kann, die auf den ersten Blick illegal wirken. Sein Job
wird so zum Schleudersitz; denn einen Maßstab, was genau verbotene Inhalte
sind, existiert nicht. 120 Arbeitsplätze bietet CleanContent in der Region
Malaga an, für Alejandros Generation nahezu die einzigen Jobs. Von
Arbeitnehmerrechten und Fürsorge für die psychischen Folgen dieser Arbeit kann
in diesem Milieu nicht die Rede sein.
Als über Alejandros Bildschirm zunehmend Bilder ziehen, die ihn persönlich
bloßstellen und beunruhigen, stellt sich die Frage, wessen Interessen
CleanContent wirklich vertritt und was die Firmenziele mit der unmittelbaren
spanischen Vergangenheit zu tun haben. Dass ausgerechnet ein Historiker zum Ziel
einer beunruhigenden Kampagne wird, wirkt dabei höchst perfide. Parallel zu den
sonderbaren Ereignissen an Alejandros Arbeitsplatz kommt seine Kollegin Maria
unter verdächtigen Umständen ums Leben. Noch vor Alejandro ahnen Wolfgang
Kaes' Leser, dass auch sie durch personalisierte Bilder unter Druck gesetzt
wurde. Mit Marias Familie, der deutschen Kriegsreporterin Lis und Alejandros
Schwester, die als Journalistin bei El Pais arbeitet, tritt ein ganzes Team von
Unterstützern für Alejandro auf, das gemeinsam den Hintergrund von
CleanContent zu ermitteln versucht, sowie die Familiengeheimnisse, mit denen
Maria und Alejandro so perfide zu treffen waren. Das Team taucht in eine fremde
Welt ein, in der zwar eine dünne Schicht Giftmüll aus Sozialen Medien entfernt
wird, viel zu viel jedoch ungeahndet bleibt. In einem streng katholischen Umfeld
haben Alejandro und seine Mitstreiter sich mit einem Gegner angelegt, der viel
zu verlieren hat und mit harten Bandagen kämpft.
Fazit
Wolfgang Kaes hat mit dem Lemming-Projekt einen exzellent recherchierten
Thriller mit doppeltem Boden geschaffen, in dem Figuren mehrere Ziele zugleich
verfolgen. Besonders gut gelungen finde ich seine geschmeidige Vermittlung
historischer Fakten durch einen Historiker und eine kämpferische Journalistin,
so dass der Eindruck von Infodropping vermieden wird. Das komplexe wie spannende
Szenario in der alten Zuckerfabrik von Frigiliana ist keineswegs dystopisch. Es
zeigt schonungslos, wohin es führt, wenn internationale Konzerne für sich
beanspruchen, im rechtsfreien Raum zu agieren.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 17. August 2021 2021-08-17 06:19:34