Seit den 1990-ger Jahren negieren Historiker und Politologen die These eines
deutschen Sonderweges, der zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt habe.
Bücher, die einen solchen Sonderweg postulierten, gibt es zwar - angefangen von
Shirers "Aufstieg und Fall des Dritten Reiches", Meineckes bereits
1946 publizierte "Die deutsche Katastrophe" bis hin zu Winklers
"Der lange Weg nach Westen".
Helmuth Plessner hat in seinem Buch "Die verspätete Nation", welches
bereits 1935 aufgrund von Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten an der
Universität Gröningen entstand, die geistes- und philosophiegeschichtlichen
Grundlagen für einen deutschen Sonderweg nachgezeichnet. Es gibt in Deutschland
- wie Norbert Elias später ebenfalls postulierte - einen Gegensatz zwischen
Kultur und Zivilisation, die darauf zurückzuführen ist, dass die Deutschen
eine "verspätete Nation" sind. "Die wesentliche Differenz
zwischen den Deutschen und den Völkern des alten Westens, die ihre
nationalstaatliche Basis im 16. und 17. Jahrhundert gefunden hatten und auf
"goldene Zeitalter" zurücksehen können (was wir nicht können) liegt
in dieser Zeitverschiebung, die eine innere Verbindung zwischen den Mächten der
Aufklärung und der Formund des Nationalstaates in Deutschland verhindert
hat." Dies ist die zentrale Feststellung in Plessners umfangreicher
Philosophiegeschichte. In deutscher Perspektive habe die Blütezeit des Heiligen
Römischen Reiches deutscher Nation die Stelle des Goldenen Zeitalters
eingenommen. "Damit gewann die romantische Bewegung, in welcher die
revolutionäre Phase der Aufklärung und der Emanzipation des Gefühls ihre
Krönung und ihre Widerlegung fand, im Unterschied zu England und den
romanischen Nationen an Bedeutung für die nationale Integration." Das
Bürgertum sei unpolitisch und obrigkeitsstaatlich verhaftet gewesen.
"Wer die Probleme unserer politischen Kultur verstehen will, für den
sollte dieses Buch zur Pflichtlektüre gehören. Es vermittelt Einsichten, die
über alle Patent-Erklärungen und Einweg-Formeln differenzierend und weit
hinausführen." Dieses - auf dem Buchrücken abgedruckte - Plazet des
Plessner-Schülers Christian Graf von Krockow kann ich nur bestätigen.
Fazit
Heute ist dies nach wie vor die meines Erachtens beste Geistes- und
Philosophiegeschichte, die - neben dem umfangreichen Werk von Norbert Elias - in
Deutschland erschienen ist.
Unbedingt lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 22. Juni 2004 2004-06-22 18:17:57