Anja Baumheiers Roman ist auf einer fiktiven Insel an der deutschen
Nordseeküste angesiedelt und folgt dem Schicksal eines "Adam Riese",
der schon als Kind besonders eigenbrötlerisch war und ein engeres Verhältnis
zu Zahlen als zu Menschen pflegte. Auf wechselnden Zeitebenen wird u. a. die
Vorgeschichte seiner tschechisch-stämmigen Mutter Oda erzählt, die als Kind
mit Mutter Leska nach Osfriesland kam. Leska prägte die 300-Einwohner-Insel
durch ihre Backwaren und ihre sehr persönliche Sprache, die sich aus
tschechischem Satzbau und dem Platt der Insulaner entwickelte. Als Erwachsene
arbeitet Oda beim Lokalsender, auf der Insel integriert, aber mit einem winzigen
Funken Fernweh im Herzen. Als in den 80ern ein Restaurator für den Leuchtturm
der Insel gesucht wird, zeigen sich Leskas böhmische Backkünste als
Standortvorteil, um aus dem tiefen Bayern einen "Hubert Riese" in den
Norden zu locken. Dass es an der Waterkant keinen Experten für Leuchttürme
mehr geben soll, ließ mich befürchten, dass die Handlung von hier an eine
groteske Richtung einnehmen würde. Aber wenn in der Realität der einzige und
langjährige Experte für Saterländisches Friesisch ein Schwarzafrikaner war,
ist hier oben offenbar nichts unmöglich. Oda und Hubert werden ein Paar, Sohn
Adam wird nach langem Warten auf das Wunschkind als Frühchen geboren. Hubert
jedoch scheint sich trotz seiner Expertise für Leuchttürme schwer auf der
Insel zu integrieren – und ist eines Tages verschwunden. Der erwachsene Adam
wird sich auf die Suche nach seinem Vater begeben und dazu weiter ins
europäische Sprachengemisch eintauchen.
Wie in einer wissenschaftlichen Arbeit sind fremdsprachige Sätze in Baumheiers
Roman in Fußnoten am Seitenende übersetzt. Sollte eine Übersetzung aus dem
Plattdeutschen wirklich nötig sein, fragte ich mich. Doch spätestens mit
Leskas Ankunft und dem japanischen Arzt Dr. Watanabe musste ich einsehen, dass
das Sprachgemisch auf der Insel geordnet werden sollte – und sei es nur aus
Rücksicht auf Adams spezielle Ansprüche, die sich mit dem Heranwachsen immer
deutlicher ausbildeten. Für einen Sprachwissenschaftler, der vermutlich eine
Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhielt, passt der wissenschaftliche
Mantel.
Anja Baumheier hat einen skurrilen Roman (mit zahlreichen Rückblenden) über
Exzentriker, Muttersprache, Vatersuche, Mehrsprachigkeit, Sprachstörungen, das
Überleben winziger Gemeinschaften und die Sprachwissenschaft geschrieben, der
bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, in der wir uns mit der Sprachfunktion
stoffüberzogener Objekte unterhalten. Eine Reihe von Sympathieträgern und
Kümmerern bieten Lesern breite Identifikationsmöglichkeiten, nicht zuletzt
überzeugt das Motiv des Leuchtturms als Rückzugsort, wenn das Leben gerade zur
Last wird …
Fazit
Leser, die hier nicht zu viel hinterfragen, finden anrührende Einblicke in eine
Figur, die für ihr soziales Leben einen Vermittler oder Dolmetscher benötigt.
Die wichtige Frage, wie wir diese besondere Kunst der Vermittlung lehren und
welchen Platz wir den Adams dieser Welt einräumen, ist Grund genug, das Buch zu
empfehlen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 19. Februar 2021 2021-02-19 09:06:45