Die Ereignisse, bei denen die Frau des Leipziger Kriminalinspektors Paul Stainer
ums Leben kam, sind erst wenige Tage her. Direkt anschließend an die Handlung
des ersten Bands hat Stainer gemeinsam mit seinem Kollegen Junghans im Fall
eines toten Studenten und Burschenschaftlers zu ermitteln. Äußerlich
gezeichnet durch seinen weißen Haarschopf, ist Stainer traumatisiert aus dem
Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, und hat als "Kriegsneurotiker" einen
längeren Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich. Er ist längst nicht
erfolgreich therapiert und spielt auf Zeit, bis Kollegen oder Vorgesetzten
auffallen wird, dass er noch nicht dienstfähig ist. In einem parallelen
Handlungsstrang erwartet die Journalistin Marlene Wagner vergeblich ihren
Bruder, der in Basel mit einem offiziellen Gefangenentransport aus
französischer Gefangenschaft erwartet wird. Als ebenfalls in Basel ein
deutscher Soldat unter verdächtigen Umständen ums Leben kommt, reist sie
überstürzt zum Fundort, um Klarheit zu erhalten, ob der Tote ihr Bruder sein
könnte. Marlene, die gute Kontakte zu einem ehemaligen Kollegen in Basel
pflegt, kehrt mit Beweisstücken zurück, die der Tote bei sich hatte und von
deren Herkunft sie sich eine interessante Story verspricht. Mit einer forschen
wie ungeschickten Reportage über Leipzigs Studentenverbindung hatte Marlene
ihre Zeitung in Schwierigkeiten gebracht, die ohnehin im Kreuzfeuer
konservativer Politiker steht.
Weitere Handlungsstränge folgen der Straßenbahnfahrerin Josefine König, die
ihren Arbeitsplatz verlieren wird, damit arbeitsuchende Männer Arbeit finden
und Rosa Sonntag, einer Barbesitzerin und Kunstmalerin. Auf der Spur von
Notizbuch und Zigarettenetui des Toten von Basel gelangt Marlene in die Branche
der Kürschner und Pelzhändler. Die parallelen Handlungsfäden geben zunächst
neue Rätsel auf, z. B. was ein Maler in Leipzig vorhatte, auch er
Burschenschaftler, der offenbar mit dem Toten von Basel im selben Zug aus
Frankreich zurückkehrte, und welche Interessen die Brüder Adamek verfolgen.
Ziebulas Leser sind Helene und den Ermittlern stets ein paar Schritte voraus und
müssen zusätzlich mit Steinar fiebern, der kurz vor dem Zusammenbruch zu
stehen scheint. Die Kreise der Kriegsereignisse, Geschäftsbeziehungen, des
Vergnügungsgewerbes und der Alten Herren der Studentenverbindung schließen
sich am Ende glaubwürdig.
Mit Thomas Ziebulas Figuren lässt es sich wieder zügig ins Leipzig der 20er
Jahre eintauchen; die individuellen Vorgeschichten werden geschickt in die
Handlung eingeflochten. Schon im ersten Band hatte mich der Blick ins
Transportwesen angesprochen (Straßenbahn, Fuhrwerke und wie Ermittler vor 100
Jahren zu ihren Tatorten gelangten) und in die Lebensbedingungen verschiedener
Milieus. Mit Burschenschaften und jüdischen Geschäftsleuten erweitert Ziebula
sein Szenario um weitere interessante Bevölkerungsgruppen. Nicht zu vergessen,
dass viele Männer gerade aus dem Krieg zurückgekehrt sind und
Burschenschaftler intensiv mit Stichwaffen trainieren …
Fazit
Auch wenn Marlene für ihre Zeit etwas zu leichtfertig wirkt, überzeugen
Ziebulas Plot und - bis in die Nebenrollen - sein Figurenarsenal. Da Steinars
Kollege Junghans ein ausgesprochenes Ermittlungstalent zu sein scheint, hoffe
ich auf eine Fortsetzung der Reihe, selbst wenn Steinar sich erst einmal in
Therapie begeben würde …
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 15. Februar 2021 2021-02-15 14:09:10