Akribisch herausgearbeitete Diskrepanz zwischen Bild und Wahrheit
Mutig, aufrecht, stringent, klug, mit klarer Linie und Beharrungsvermögen, so
stellt man sich den Gründer einer Dynastie und eines Reiches gerne vor und so
hat Friedrich Wilhelm von Brandenburg aus dem Hause Hohenzollern, der
"große Kurfürst", sich durchaus auch selber gerne gesehen. Zumindest
sich gerne nach außen so dargestellt. Als Gründer eines Staates, Preußen, als
"erster Mann im Staat", als einer, der entschieden je zugegriffen hat,
wo es richtig, sinnvoll und nötig war.
Aber Jürgen Luh entfaltet vor den Augen des Lesers Seite für Seite ein anders
Bild. Das eines Mannes, der teilweise mehr Glück als Verstand, besser als
Charakter, besaß, auf diesem Weg der Staatsgründung inmitten eines Kontinents
in intensiver Bewegung, einer Neuordnung der herrschenden Kräfte in Europa im
17. Jahrhundert, in der Umbruchphase zur "Neuzeit". Was Luh eloquent
von Beginn an mit in den Raum setzt und in der Beschreibung der ersten
Regierungsjahre, "auf der Suche nach seinem Platz in der Welt" bereits
in den prägenden Zügen dieser Persönlichkeit aufweist.
"…war von dem Selbstwertgefühl, das ihn in den Niederlanden auszeichnete
und dass ihn lange erfüllt hat, nichts mehr zu bemerken".
Niedergeschlagen, durchdringend kleinmütig und ohne Glauben an sich selbst, das
sind die charakterlichen Eigenschaften, die den großen Kurfürsten zu Beginn
seines regierenden Wegs als Person kennzeichneten. Düstere innere
Befindlichkeiten, die Friedrich Wilhelm allerdings durchaus, so nötig, gut
verbergen konnte. Wie ein Portrait des Mannes aus jener Zeit aufzeigt. Energisch
die Hand auf die Hüfte gestützt und in vollem Ornat ist es der
Gesichtsausdruck, der eine ganz andere Sprache als die einer mutigen
Entschlossenheit widerspiegelt.
Klug also für den jungen Regenten, sich Rat und Hilfe zu suchen und nicht zu
stolz gegenüber Ratschlägen zu sein. Sei es von den Frauen seiner
Verwandtschaft (denen er Zeit seines Lebens mit Dankbarkeit dafür begegnete),
sei es durch den Generalmajor von Wedel, der ihm die Grundzüge der notwendigen
Politik und Handlungen mithilfe einer Denkschrift an die Hand gab. Was zu jener
konkreten Art und Weise des Herangehens an "staatliche Geschäfte"
führte, die Friedrich Wilhelm später auszeichneten. Sich immer erst überaus
gründlich zu informieren, ehe er eine konkrete Richtung einschlug. Mit dem
Nachteil, auch in "heißen Situationen" eben nicht mutig zuzufassen,
sondern sich grundlegend nicht selten schwer damit tat, überhaupt eine
Entscheidung zu treffen.
Mit im Übrigen auch schwierigen Entscheidungen dann, die ihn nicht selten in
Europa eher isolierten (konfrontativ gegen Kaiser und Reich, sich eng
anschließend an Frankreich, das ihm den Ruf einbrachte, kein Teil Mitteleuropas
zu sein, sondern ein "Gefolgsmann der Türken und Franzosen). So wundert es
nicht, dass auch im Alter der große Kurfürst weiterhin keine "strahlende
Persönlichkeit" war, sondern durch Enttäuschungen sich verbittert zeigte
und "von schwerer Sorge niedergedrückt". Bis hin dazu, selbst am Ende
seiner Tage eine "verwirrende Nachfolgeregelung" zu treffen.
Fazit
Akribisch geht Luh dem Leben des Mannes nach, erweitert dabei den Blick des
Lesers auf die komplexen Verhältnisse in Europa mit den rasch wechselnden
Fronten von Freund und Feind und bietet ein differenziertes Bild der Gründung
Preußens und seines Gründers, der scheinbar manches Mal mehr Glück als
Verstand hatte auf dem Weg, einen funktionierenden Staat inmitten vielfacher
politischer Interessenslagen zu gründen und zu bewahren.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 31. Januar 2020 2020-01-31 15:54:28