Anfang 1920 ist zwei Jahre nach Kriegsende endlich ein Eisenbahnzug deutscher
Soldaten aus französischer Kriegsgefangenschaft in Leipzig eingetroffen. Auch
Major Paul Stainer kehrt zurück in den Polizeidienst und wird zum
Kriminalkommissar befördert. Stainer ist mit Mitte 30 durch seine
Kriegserlebnisse in Belgien bereits völlig ergraut und will sein Kriegstrauma
durch Arbeit verdrängen. Wenn der Inhalt seiner Krankenakte als
"Kriegsneurotiker" in der Dienststelle bekannt würde, würde er mit
Sicherheit für dienstunfähig erklärt. Dass er bei der Arbeit ständig mit
Opfern von Kapitalverbrechen und mit Schusswaffen konfrontiert sein wird,
verdrängt Stainer zunächst. Doch seine Haut scheint ausgesprochen dünn und
eine Behandlung seiner Erkrankung liegt außerhalb seiner Vorstellungen.
Wie alle anderen Rückkehrer brauch Stainer Arbeit, Geld und vielleicht bald
eine neue Wohnung; denn seine Ehe mit Edith scheint am Ende zu sein. In den
Wirren seiner Gefangenschaft und seines Aufenthalts in der Psychiatrie hat Edith
Stainer seit Jahren nichts mehr von ihm gehört und hält ihn für tot.
Heimkehrer und Kriegsversehrte prägen noch immer das Stadtbild Leipzigs. Es
mangelt an Wohnungen und Arbeitsplätzen, die Heimkehrer betteln teils oder
stehen bei der Fürsorgekasse um ihre Unterstützung an. Zu Stainers
Verwunderung werden Straßenbahnen inzwischen sogar von Frauen gefahren.
In seiner frisch gegründeten Abteilung wird Stainer zunächst mit dem Mord am
Gymnasiallehrer Jagoda konfrontiert, der ebenfalls versucht hatte, sein
Kriegstrauma zu verdrängen. Jagoda hatte zusätzlich eine Mission, er wollte
unbedingt Aufzeichnungen über Ereignisse an der Front in Belgien in die
richtigen Hände übergeben und fühlte sich verfolgt von Leuten, die das mit
allen Mitteln verhindern wollen. Als es zu weiteren Morden in der Villa eines
wohlhabenden Fabrikanten kommt, scheinen beide Fälle gemeinsam auf eine groß
angelegte Vertuschung von Kriegsverbrechen an der belgischen Zivilbevölkerung
hinzuweisen. Ein Auslieferungsersuchen Frankreichs für Kriegsverbrecher liegt
vor – und die Liste der Verdächtigen reicht bis ins Polizeipräsidium. Das
ist kaum verwunderlich, denn Polizei und Militär waren schon vor dem Krieg eng
miteinander verflochten.
Thomas Ziebula verknüpft in mehreren Handlungssträngen die Schicksale der
Kriegsheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, der Mordermittler und von Frauen,
die ihre Familie ernähren, während das Schicksal ihrer Männer noch ungeklärt
ist. Wie sich die Wege der Beteiligten kreuzen erscheint mir glaubwürdig,
aber auch Stainers Ambivalenz gegenüber einer therapeutischen Behandlung.
"Der rote Judas" wirkt im Wortschatz jener Zeit und den Alltagsdetails
sehr authentisch und wird dicht erzählt. Ziebula hat offenbar sorgfältig
recherchiert, wie z.B. in den 20ern Täter und Ermittler an einen Tatort gelangt
sein könnten, wie die Kraftdroschken und Straßenbahnen jener Zeit aussahen und
gefahren wurden. Eine Übereinstimmung von Alltagsdetails mit
Zeitzeugenberichten sorgt bei mir stets für besondere Spannung und mir gefallen
Details wie Stainers Stenografieren. Vor 100 Jahren hatten Akademiker und
Offiziere häufig Kurzgeschrift gelernt und gaben bei Bedarf ihre
Aufzeichnungen zum Entziffern und Abtippen in den Schreibsaal. Auch die
Arbeitssituation der Ermittler fand ich höchst interessant, die theoretisch
schon von Methoden der Spurensicherung wissen, sie aber intern noch nicht gegen
das Beharrungsvermögen mancher Kollegen durchsetzen können.
Fazit
Ausführliche Milieuschilderungen, der im historischen Krimi bisher
unverbrauchte Schauplatz, ein für die Epoche authentischer Wortschatz und die
Situation von traumatisierten Kriegsheimkehrern aus dem Ersten Weltkrieg ergeben
einen fesselnden historischen Krimi, den ich gern empfehle.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 27. Januar 2020 2020-01-27 08:17:09