"Meister und Margarita" von Bulgakow gehört neben
"Hunderherz" zu den wichtigsten russischen Romanen des 20.
Jahrhunderts. Einflüsse sind bis in die Gegenwartsliteratur, etwa Viktor
Pelewins: "Buddhas kleiner Finger" (1996) spürbar.
Eines Tages kommt der Teufel, der bereits Christus' Kreuzigung erlebt hat, auf
die Erde und prophezeit einigen wichtigen Leuten den baldigen Tod. Diese sterben
auch - doch der Leser hat mit ihnen kein Mitleid: es sind alles Fieslinge im
Moskau der 1920-ger Jahre. Nur der Meister und Margarita, ein Liebespaar und
Protagonisten des Romans, sind ausnahmslos positiv gezeichnet und gut. Es ist
deren bewegendes Schicksal, um das der Roman sich dreht. Der Meister ist Autor
eines Romans um Pontius Pilatus, der von den engstirnigen Literaturfunktionären
abgelehnt wurde. Darüber erleidet er einen Nervenzusammenbruch und wird in eine
Nervenheilanstalt eingewiesen. Sein Manuskript wird verbrannt. Margarita weiß
von diesem Schicksal nichts, sie hat ihren Geliebten aus dem Auge verloren. Um
über sein Schicksal Aufklärung zu erhalten, ist sie bereit, die Gastgeberin
auf dem Ball des Satans zu spielen. Als Lohn für diese Selbstlosigkeit wird sie
wieder mit dem Meister zusammengeführt. Dies ist die erste Ebene des Buches.
Auf einer weiteren Ebene wird die Kreuzigung und Auferstehung Jesu aus Sicht des
Pontius Pilatus nacherzählt: es handelt sich um einen Roman im Roman; es ist
die vom Teufelsmagier Voland erlebte echte Kreuzigung Christus und gleichzeitig
Handlungsort des vom Meister verfassten vernichteten Romans.
Diese 3 Szenen fand ich die eindrucksvollsten des ganzen Romans: Pontius Pilatus
ist nicht nur ein Zauderer, sondern ein von Zweifeln und Skrupeln geplagter
Mensch, der unter der Last seiner Entscheidungen beinahe verzeifelt. Es zeigt
sich: die "Wahrheit" - so Bulgakow - ist differenzierter als der -
durch die Überlieferung vermittelte - Schein.
Doch auch die in der Realität - der Gegenwart des stalinistischen Moskaus der
1920-ger Jahre spielenden - Teile, der dritten Ebene des komplexen Buches, die
vor Action, phantastischen Aktionen und skurrilen, ja aberwitzigen Situationen
beinahe zu temporeich geraten sind (man meint als Leser, Gogol sei auferstanden)
erinnern sehr an E.T.A. Hoffmann und verweisen satirisch auf die traurige
sowjetische Realität der durch Ideologie und "sozialistischen
Realismus" (die offizielle Kulturpolitik seit 1931) gegängelten Literatur.
Moralische Werte zählen nicht mehr, Egoismus und verfallende Moralstrukturen
kennzeichnen die sowjetische Gesellschaft seit jener Zeit. Bulgakow gibt hier
nicht nur eine Schilderung der Gegenwart, unter der er selber litt (der
"Meister" im Buch dürfte auch auf autobiographischer Ebene ein
Spiegelbild Bulgakows sein), er zeichnet prophetisch den weiteren Gang der
sowjetischen Gesellschaft im Kommunismus nach, wie es Tim Guldiman so treffend
in seinem 1979 erschienenen Buch: "Moral und Herrschaft in der
Sowjetunion" (Suhrkamp-Verlag) nachgezeichnet hat.
Insgesamt ein sehr vielschichtiger Roman. Wer die zahlreichen Bezüge verstehen
möchte, der lese zusätzlich das Kapitel: "Der
Sonnenuntergangs-Roman" in der hervorragenden Bulgakow-Biographie von
Elsbeth Wolffheim (Rowohlt, 1996).
Fazit
Fazit: ein - schwer zu lesendes - Meisterwerk des 20. Jahrhunderts mit
offensichtlicher Anlehnung an Einflüsse der deutschen Romantik um E. T. A.
Hoffmann und für mich einer der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts.
Unbedingt lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 29. Mai 2004 2004-05-29 17:32:33