Was ist Schönheit? Was ist Wahrheit? Was ist Menschlichkeit? Das sind die
zentralen Fragen, die Peter Lindbergh in seiner Sprache, der Fotografie,
verarbeitete. Damit revolutionierte er nicht nur die Modefotografie, sondern
setzte neue Maßstäbe bei den Schönheitsidealen...
Dieses schwergewichtige, 472 Seiten starke Werk 'A Different Vision on
Photography' erschien zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthal Rotterdam
und zeigt die in den letzten 40 Jahren entstandenen, wichtigsten Arbeiten Peter
Lindberghs, der in seinem Fach, der Porträt- und Modefotografie von vielen
übereinstimmend als der Beste der Welt bezeichnet wird.
Präsentiert werden die Fotos wie in der Ausstellung selbst nach Modeschöpfern
in alphabetischer Reihenfolge. Das Buch beinhaltet neben den oft ganzseitigen
Abbildungen ein in jeweils englischer, französischer und deutscher Sprache
verfasstes Vorwort von Emily Ansenk, der Direktorin der Kunsthal Rotterdam sowie
ein Kommentar von Thierry-Maxime Loriot, dem Kurator der Ausstellung. Man
erfährt alles rund um das Zustandekommen der Ausstellung sowie Einblicke in die
Biographie, vor allem aber in die alles verändernde Denk- und Arbeitsweise des
Künstlers: er ging nicht von der Mode aus, sondern von der Persönlichkeit des
Menschen, die er in ihrer Vielschichtigkeit herausarbeitete.
Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in Duisburg lernte er zunächst den
Beruf des Schaufensterdekorateurs, den kreativsten Beruf, den er sich bis dahin
vorstellen konnte. Nach einem Kunststudium und einigen Stationen u.a. in
Deutschland, Frankreich und der Schweiz fand er dann schließlich zu seiner
wirklichen Berufung - der Fotografie. Die Künstlichkeit der 80er- Jahre-
Modefotografie hat ihn nicht interessiert, er setzte ein anderes Frauenbild auf
den Titelseiten der weltweit wichtigsten Modemagazine durch.
Der Durchbruch gelang ihm 1989 mit dem Titelcover der britischen VOGUE, auf dem
er erstmalig und nur mit weißen Herrenhemden bekleidet die späteren
Supermodels Linda Evangelista, Karen Alexander, Christy Turlington, Estelle
Lefébure, Tatjana Patitz und Rachel Williams auf einem Foto am Strand von Santa
Monica fast ungeschminkt zusammenbrachte. Revolutionär nach der maskenhaften
Schminke und dem Pomp der 80er Jahre. Eine neue Ära begann. Für die Frauen,
für die Modefotografie und nicht zuletzt für ihn selbst.
"Was Lindbergh immer von anderen Fotografen unterschied war seine Art,
Frauen zu idealisieren, denn für ihn stehen Seele und Persönlichkeit an erster
Stelle", schreibt Thierry-Maxime Loriot. Mit seiner ihm eigenen Art kam er
extrem nah an die Menschen heran, als ob es keine Kamera gäbe. Um Menschen so
zu fotografieren, wie sie wirklich sind, war das Casting ein wichtiger Teil
seiner Arbeit. So äußerte er sich einmal mir selbst gegenüber, dass er kaum
oder ungeschminkte Gesichter und ein schlichtes Styling der Haare bevorzuge, um
natürliche Schönheit und Authentizität zu unterstreichen. Die Gesichter seien
dann "heruntergestripst auf die Schönheit".
Denn er wollte seine Models immer "absolut ehrlich" fotografieren, sie
vom Schrecken des Jugendwahns und der Perfektion befreien. Lindbergh war davon
überzeugt, dass Spuren des Alters ein Gesicht interessanter machen, da sie
gelebtes Leben widerspiegeln. Umso verrückter befand er die Idee, diese in der
Nachbearbeitung zu perfektionieren. Für den Starfotografen kam das einem
Löschen aller Erfahrungsspuren eines Gesichts gleich, wie einer Verstümmelung.
Sein Markenzeichen waren grobkörnige Schwarzweiß- Aufnahmen, bestmögliche
Schärfe verachtete er. Auch bei der Umstellung auf die Digitalfotografie vor
vielen Jahren blieb er seinen Stilmitteln treu. Ohne Farben ließe sich
'Wahrheit' in seinen Augen besser transportieren. Grautöne können sehr
zärtlich wirken, wogegen die harten Schwarzweiß- Kontraste an die elementare
Wucht des Ozeans erinnern.
Nach seinem viel zu frühen Tod mit 74 Jahren hinterlässt Peter Lindbergh uns
ein opulentes Werk als Zusammenfassung seines Schaffens in der Modefotografie.
Hochgelobt als der beste Mode- und Porträtfotograf des 20. und 21. Jahrhunderts
bin ich sehr froh, diesen freundlichen, zugewandten und überaus höflichen
Ausnahmefotografen persönlich kennengelernt zu haben. Auch wenn er selbst sehr
bescheiden mit seinem Ruhm umging, konnte ich ihm entlocken, dass er den
Ausstellungskatalog als gelungen betrachtete, und auch ich kann dieses Buch nur
uneingeschränkt weiterempfehlen. Es macht neugierig, sich mit seinem Werk noch
vertiefter auseinanderzusetzen, sei es in Museen, Ausstellungen, Büchern oder
Filmen.
Fazit
Großartige, umfassende Retrospektive mit den wichtigsten Werken aus 40 Jahren
Porträt- und Modefotografie des Starfotografen Peter Lindbergh. Haptisch,
druckqualitativ wie inhaltlich ein außergewöhnliches Werk.
Vorgeschlagen von Vorderwülbecke
[Profil]
veröffentlicht am 04. November 2019 2019-11-04 07:36:56