Wer George Orwells "
1984" gelesen hat, sollte
unbedingt den vorliegenden Roman des Russen Jewgenij Samjatin aus dem Jahre 1920
(!!!) lesen. Sajmatins Buch gehört in die Tradition der großen visionären
kulturkritischen Zukunftsromane, in denen es nicht umd die Darstellung des
technischen Fortschrittes geht, sondern um die Bedrohung des Individuums in
einer zunehmend technisierten Welt. Schon 1920 entwarf Samjatin, Freund Maxim
Gorkis und Bolschewist, in seniem Roman die alptraumhafte Welt eines
totalitären Staates. D 503, Bürger des Einzigen Staates und Konstrukteur des
Raketenweltraumschiffes Integral, berichtet in seniem Tagebuch vom Leben in
einer strahlenden, kristallen durchsichtigen Stadt, in der die Bürger als
uniformierte Nummern leben. Von der Arbeit bis zur Liebe ist das Leben streng
nach mathematischen Gesetzen organisiert, jede Regung wird beobachtet und
kontrolliert. Dennoch entdeckt der Konstrukteur D503, dessen Geschichte in dem
Roman erzählt wird, plötzlich in sich Triebe aus einer längst vergangenen
Zeit: es hat sich in ihm eine "Seele gebildet!".
Wie "
1984",
"Brave New World" und "
Fahrenheit 451" gehört - nein
begründet! - Samjatins Roman die Tradition kulturkritischer Zukunftsromane, in
denen es um die Bedrohung des Individuums in einer vollkommen technisierten und
totalitären Welt geht.
Die Parallelen zu Orwells "
1984" sind unübersehbar. Beide,
Samjatin wie Orwell, sind enttäuschte Sozialisten und Revolutionäre, die sich
von ihrem Staat abgewandt haben. Beide fordern das Recht auf Glück. Die
irreguläre Liebe des Konstrukteurs und Mathematikers D-503 zu der
Revolutionärin I-330 kehrt bei Orwell in der Liebe von Winston Smith und Julia
wieder. "Doch ist nicht zu verkennen, daß die Atmosphäre bei Orwell
düsterer und bedrückender, schier hoffnungslos ist; bei ihm liefert die
Menschlichkeit, so scheint es, ihr letztes Gefecht" - so völlig korrekt
Jürgen Rühle in seinem hervorragenden Nachwort zur vorliegenden Ausgabe, in
dem auch die Unterschiede zu Huxleys "Schöne neue Welt" gut
herausgearbeitet werden.
Aber: Samjatins prophetische Leistung steht weit über der seiner Nachfolger.
Als er seinen Roman schrieb, existierte der Totalitarismus erst kurze Zeit, die
russische Tscheka war eben erst gegründet worden. Als Huxley und Orwell ihre
Bücher verfassten, stand Russland im Zeichen des Stalinismus, Deutschland und
Italien im Zeichen von Nationalsozialismus und Faschismus - das "Zeitalter
der Ideologien" (Karl-Dietrich Bracher) war angebrochen und deutlich
sichtbar. Es ist diese prophetische Leistung des in der beginnenden totalitären
Diktatur lebenden Samjatin (dessen Buch zum Bruch mit den Kommunisten und zu
seiner von Stalin überraschenderweise genehmigten Ausreise aus der UdSSR 1931
führte), die dieses Buch so unvergleichlich macht.
Fazit
Für mich neben Orwells "1984" der größte utopische Roman des 20.
Jahrhunderts.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 21. Mai 2004 2004-05-21 10:56:02