Der Weg vom Selbst-Denker zum Selbst-Henker
Der Philosoph Philipp Mainländer (1841-1876) ist vielen inneruniversitären
Wissenschaftlern entweder kein Begriff mehr oder ein Denker von vermeintlich
geringfügiger Bedeutung. Und so mag man als umfassend philosophisch
interessierter Sucher womöglich des einen oder anderen Umweges bedürfen, um
überhaupt etwas seinem Wesen und Niveau angemessenes in der Literatur zu
Mainländer zu finden. Wenn man zudem über Schopenhauers Pessimismus, Davilas
oder Chiorans Weltschmerz nicht zu Mainländer findet, so führt doch ein Pfad
von Otto Weininger (1880-1903) zu ihm hin.
Man stößt z.B. auf Mainländer, wenn man sich der Lektüre Otto Weiningers
letzten Werkes hingibt. In einer im Verlag Mathes & Seitz herausgegebenen
Auflage von Weiningers Schrift "Über die letzten Dinge" befindet sich
nämlich ein Essay des politischen Publizisten Theodor Lessing über Weininger.
Er trägt den Titel "Der jüdische Selbsthaß". In ihm heißt es über
Weininger: "Er hat es so gehalten, wie siebenunddreißig Jahre zuvor der
blutjunge Philipp Mainländer, der am Tag, wo er seine geniale "Philosophie
der Erlösung" im Druck vollendet vor sich liegen sah, zum Strick griff und
starb." (Otto Weininger: Über die letzten Dinge. Mit einem Essay von
Theodor Lessing von 1930: Der jüdische Selbsthaß, Matthes und Seitz, 1997, S.
198)
Nun war Mainländer kein Jude, aber er war vor Otto Weininger jemand vom Range
eines solchen resoluten sokratisch-philosophischen Charakters, der angesichts
fehlender Verbindlichkeit der Transzendenz und der metaphysischen Leere der Welt
und angesichts eigener Gleichgültigkeit ihr gegenüber den einzigen Ausweg in
seiner Selbstverwirklichung auf dem Wege ausschließlicher Selbstvernichtung
sah. Auf Anregung der Mainländer-Kenner Dr. Winfried H. Müller-Seyfarth
(Herausgeber der Mainländer-Gesamtausgabe) und Dr. Thomas Regehly
(Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft) wurde nun am 28. November 2005
in Offenbach die "Internationale Mainländer-Gesellschaft e.V."
gegründet. Der daraus resultierende und vorliegende Sammelband bietet jetzt in
sehr übersichtlicher Form entsprechend den Wissensstand zur aktuellen
Mainländer-Rezeption dar und beinhaltet bündige Texte zur Schopenhauer-Schule,
zu psychoanalytischen Erkenntnissen im Hinblick auf ein bei Menschen
vorkommendes pessimistisches Weltbild oder zu Mainländers Bedeutung für andere
Schriftsteller.
Vor diesem Hintergrund erschließen sich auf den wenigen 114 Seiten grundlegende
und zugleich interessante Gegenüberstellungen von pessimistischen Philosophen
und ihren zentralen Lehrinhalten. Terminologische Verdichtungen wie die folgende
sind zum Verständnis derselben sehr hilfreich und befinden sich direkt zu
Beginn des Buches: "Wille zum Leben" (Schopenhauer), "Wille um
Tode" (Mainländer), "Das tragische Gesetz der Welt" (Bahnsen),
"Wille zur Macht" (Nietzsche), "élan vital" (Bergson),
"Das Unbewusste" (Freud), "Das Dämonische" (Thomas Mann).
(23)
Mainländers Metaphysik der Entropie gilt hierbei als ausdrückliche negative
Eschatologie, die ihren Lehrer Schopenhauer, der noch den Willen zum Leben
proklamierte, in der Konsequenz zu überwinden trachtet: Gott ist gestorben und
sein Tod war das Leben der Welt. Gott ist bei Mainländer anders als bei
Nietzsche nicht vom Menschen getötet worden, sondern er folgt einem inneren
Impuls zur Verwesung, einem Drang, vom Sein in das Nichts überzugehen. (25)
Allein durch das Menschsein auf Erden ist die Möglichkeit, daß Gott ebenso auf
ihr präsent ist, verschwunden. Mainländer drängt damit auf einen zweiwertigen
Formalismus des "Entweder-Oder" zwischen Gott und Mensch. Mit dem
Dasein des Menschen hört das Dasein Gottes automatisch auf, was den gleichsam
philosophischen Dekomponisten Mainländer zu dem Ergebnis der
Selbstbemächtigung des Subjekts gelangen läßt.
Leider wird an dieser Stelle des mehrere Beiträge zu Aspekten Mainländers
umfassenden Sammelbandes nicht darauf eingegangen, daß es der Vertreter des
Deutschen Idealismus G.W.F. Hegel und weder Mainländer noch Nietzsche war, der
in seiner "Phänomenologie des Geistes" bereits den zum Ende des 19.
Jahrhunderts erst aktuell werdenden Gedankengang des Todes Gottes antizipierte.
Hegel schrieb nämlich dort zur "Entäußerung der Substanz" im
Menschen: "Jenes hingegen ist umgekehrt das tragische Schicksal der an und
für sich sein sollenden Gewissheit seiner selbst. Es ist das Bewußtsein des
Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewissheit seiner und des Verlustes eben
dieses Wissens von sich - der Substanz wie des Selbsts; es ist der Schmerz, der
sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist." (Hegel,
Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp-Ausgabe 1986, S. 547)
Damit nämlich hätte sich auch jene wichtige Perspektive eröffnet, die Michael
Pauen in seinem Beitrag ("Metaphysischer Pessimismus und die
Schopenhauer-Schule") auf anderem Wege zur Sprache bringt:
Fortschrittsvorstellungen in Aufklärung und im Deutschen Idealismus haben wenig
zu tun mit einer absoluten optimistischen Einstellung, mit der Überzeugung von
qualitativem Fortschritt oder dem Glauben an die Verbesserung menschlicher
Lebensverhältnisse. Vielmehr beinhalten sie gerade auch pessimistische, von der
beispielsweise bei Hölderlin exemplarischen Zerrissenheit weltimmanenten
Daseins, geprägte Grundeinsichten, die erst dann zur Reflexion über Auswege
führen.
Der Optimismus der Aufklärer und der Deutschen Idealisten bezieht sich allein
auf die Ausbildung von Gattungsmerkmalen, die selbst Johann Gottlieb Fichte
mehrfach beschreibt, und ihnen können die individuellen Interessen problemlos
zum Opfer gebracht werden. Es eröffnet sich also bei der Lektüre der
vorliegenden Studie über Mainländer durchaus eine Dimension von integraler
Provenienz, deren Bestandteile "Optimismus" und
"Pessimismus" in Deutschland von jeher traditionell verankert waren:
von Kant, Fichte bis zu Hegel und von dort über Schopenhauer zu Nietzsche. Das
gesamte deutsche Jahrhundert - im Philosophischen ist es das 19. Jahrhundert -
war geprägt von dieser dialektischen Linie. Sie ergibt Sinn, weil sie sich zu
einem Ganzen fügt und sich deren Komponenten sich offenbar komplementär
zueinander verhalten.
Damit ist heute, 125 Jahre nach Mainländers Tode, seine Philosophie nicht
einfach als Ausfluss eines "kranken Gemüt[s]" degradierbar, sonder
harrt mit ersten erfreulichen publizistischen Schritten seitens des Herausgebers
dieser Studie einer sachlichen Auseinandersetzung. So sieht Horstmann in seinem
Beitrag im Hauptwerk des "Selbstdenkers und Selbsthenkers" nämlich
vor allem ein "ingeniöses und mit letztem existenziellen Einsatz
betriebenes Gedankenspiel" im "Niemandsland zwischen Mythos,
Philosophie und Literatur", das einen "mythopoetischen Kern"
enthalte. Mainländer, der den Mensch als selbstbewusstes Nichts, als
"Nihilenz" (Julius Bahnsen), begriff und uns in einem Fragment von
1875 eine einmalige Buddhismus-Rezeption überließ, wird deshalb auch von
vielen anderen Autoren wahrgenommen worden sein. Ein Beitrag widmet sich z.B.
nicht dem philosophischen opus magnum Mainländers, sondern dessen dichterischem
Werk. Der Autor wartet mit "verblüffende[n]" Parallelen zwischen
Thomas Manns "Tod in Venedig" und Mainländers Novelle "Rupertine
del Fino" auf. Diese war 1875 erstmals publiziert worden und wurde 1899 in
einer Bearbeitung von Fritz Sommerlad im Morgenblatt der "Allgemeinen
Zeitung" (München) erneut abgedruckt, deren Leser Thomas Mann zu dieser
Zeit war.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist, daß Philipp Mainländer erstaunlicherweise
keine konservative politische Schlußfolgerung aus seiner Philosophie zog. Ihm
schwebte vielmehr ein sozialdemokratischer Idealstaat vor, dessen Ideal
interessanterweise auch der Sozialdemokrat Kurt Schumacher (1895-1952) in seiner
Dissertation von 1926 unter dem Titel "Der Kampf um den Staatsgedanken in
der deutschen Sozialdemokratie" (Stuttgart, 1973) thematisierte. Aber
Mainländer erlebte nicht mehr die wachsende Rolle der SPD zur Jahrhundertwende
in Deutschland. Das abgeschlossene Manuskript seines Hauptwerkes übergibt er
seiner Schwester, damit diese in der Zeit seines Militärdienstes einen Verlag
dafür finde. Am 1. November 1875 kehrt er zurück nach Offenbach, wo er emsig
innerhalb zweier Monate die Rohbögen der "Philosophie der Erlösung"
korrigiert, seine Memoiren niederschreibt, die Novelle "Rupertine del
Fino" verfaßt sowie den 650 Seiten starken zweiten Band seines Hauptwerks
vollendet. Danach, als sich Mainländer gar schon als Messias der
Sozialdemokratie sah, erhängt er sich am 1. April 1876 in seiner Wohnung. Als
Podest dient ihm ein Stapel der erst am Vortage eingetroffenen, druckfrischen
Belegexemplare seines Hauptwerks "Die Philosophie der Erlösung".
Solange es noch Philosophen gibt, die dergleichen Geschehnisse denkerisch und
ohne Voreingenommenheit zu ergründen suchen, was für wahre Philosophen seit
Sokrates eigentlich charakteristisch ist, ist das Erscheinen der vorliegenden
Studie begrüßenswert, wenn nicht sogar überfällig.
Fazit
Dieses Buch ist für Philosophen, die weiter sehen wollen, indem sie Ihre
Berufsgenossen zu verstehen versuchen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 24. Juni 2007 2007-06-24 20:52:42