Der 15-jährige Ben ist mit einer westdeutschen Sportlerdelegation zu einem
deutsch-deutschen Freundschaftswettkampf in Ost-Berlin. 1985 war Deutschland
noch geteilt, für Reisen in die DDR und nach Ost-Berlin brauchte man einen
Reisepass. Die Organisation des Treffens muss für die westdeutschen Betreuer
aufwendig gewesen sein – und entsprechend nervös war der begleitende Trainer
aus West-Berlin bei der Einreise. Als einziger Leichtathlet in seinem Jahrgang
kennt Ben kaum jemanden aus der Sportler-Gruppe. So fällt es zunächst nicht
auf, als Ben bei einem Trainingslauf direkt von der Trainingsstrecke von drei
Jugendlichen entführt wird. "Der Kleine hat Westklamotten an",
schallt es ihm entgegen – und Bens erster Gedanke ist, dass die Truppe sein
T-Shirt abziehen will. Doch bald wird klar, dass Marc, der Ben verblüffend
ähnlich sieht, in der Rolle von Ben in den Westen flüchten will. Für Ben wird
das ungute Gefühl plötzlich Realität, das seine Mutter stets mit Reisen in
die DDR verbunden hat. Marc hatte den Drill des ostdeutschen Trainings
kritisiert und fürchtet, als Sohn eines alleinerziehenden Vaters zur Strafe in
einen Jugendwerkhof gesperrt zu werden, eine für ihre Härte berüchtigte
Jugendstrafanstalt. Welch fatale Folgen seine so genannte Republikflucht für
seine Angehörigen haben wird, darüber hatte er in seinem Ärger nicht
nachgedacht. Einschübe erläutern Marcs Motiv für die Flucht und informieren
über die politische Lage wenige Jahre vor der deutschen Wiedervereinigung.
Zwei jugendliche Sportler, beide 15, erzählen abwechselnd von ihrer
gefährlichen Scharade und wie sie versuchen, auf der jeweils anderen Seite
möglichst unentdeckt zu bleiben. Vermutlich haben beide geglaubt, dass sie eine
gemeinsame Sprache sprechen. Doch sie müssen schnell einsehen, wie ahnungslos
sie vom jeweils anderen politischen System waren und wie schnell sie nun
auffliegen. Marc kann so gut wie kein Englisch – und das nimmt ihm Bens
Zimmergenosse einfach nicht ab. Dass der Rollenwechsel nicht sofort entdeckt
wird, hat Helen Endemann pfiffig konstruiert, indem weder Marcs Vater, noch Bens
Eltern sofort zu erreichen sind.
Dass Marc sich mitten in den Sommerferien in einem West-Berliner Sport-Internat
als angeblicher Ben durchmogelt, löst noch nicht das Problem, wie Ben zurück
in den Westen gelangen soll. Selbst wenn er seinen West-Berliner Pass wieder
zurückhätte, fehlt ihm zur Ausreise der Passagierschein, den jeder Besucher am
Grenzübergang zwischen Ost- und West-Berlin erhält. Bevor der Ost-West-Tausch
wieder rückgängig gemacht werden kann, haben die beiden Jungen und ihre
Freunde aus Ost und West noch ein gefährliches Abenteuer zu bestehen. 1989
kommt es zu einer Wiederbegegnung der beiden jungen Männer, die inzwischen 20
sind.
Fazit
Helen Endemanns spannender Jugendkrimi für Leser ab 13 besticht durch die
sorgfältige Recherche; denn für die Handlung ist u. a. entscheidend, dass Ben
und Marc beide kurz vor ihrem 16. Geburtstag stehen. Endemann lässt sehr viel
Wissen über die Lebensverhältnisse im geteilten Deutschland einfließen, über
den Grenzstreifen, der das Land und die Stadt Berlin teilte, und über das Thema
Flucht. Auch die Perspektive zweier Jugendlicher fand ich gelungen, aus der sie
den zweiten deutschen Staat jeweils betrachteten. Als abenteuerlicher Krimi
funktioniert der Plot eines erzwungenen Rollentauschs perfekt, er kann ebenfalls
damit fesseln, wie Sprache Wissen und politisches Bewusstsein abbildet.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 22. August 2019 2019-08-22 13:59:00