Harriet/Hattie Lockwood hat reichlich langweilige Ferien vor sich, als
überraschend eine Großtante in ihrem Leben auftaucht. Glorias Nachbarin in
London sorgt sich darum, dass die alte Dame Zeichen von Demenz zeigt, und bittet
Harriets Familie um Hilfe. Der Moment könnte nicht ungünstiger sein; Harriets
Mutter und ihr Partner Carl wollen heiraten und Hattie hat gerade entdeckt, dass
sie von Reuben schwanger ist. Von Reubens unpersönlichen Mails aus seinem
Urlaub in Frankreich ist die Siebzehnjährige mehr als enttäuscht, ihre beste
Freundin ist in Schottland unterwegs und Hattie verdrängt – überfordert von
der Situation – ihre Schwangerschaft. Dass Oma Gwen eine jüngere Schwester
hat und sich dahinter ein kleiner Familienskandal verstecken könnte, scheint
eine willkommene Ablenkung für Hattie. Ihr Vater, der als Kriegsreporter im
Einsatz ums Leben kam, hat so wenig von seiner Familie erzählt, dass seine
Tochter ihre Familiensituation leicht gestört findet. Immerhin hat Carl ein
liebevolles Verhältnis zu seinen Patchwork-Kindern und Harriet kann deshalb
nicht nachvollziehen, warum ihre Mutter von der bevorstehenden Hochzeit so
gestresst wirkt. Harriet wenigstens bricht zu Gloria nach London auf und steht
den Problemen einer chaotischen Ex-Schauspielerin gegenüber, die je weniger
Hilfe annehmen will, je bewusster ihr selbst der Abbau ihrer geistigen
Fähigkeiten wird. Gloria will ihre Lebensgeschichte erzählen, diesen finsteren
Ort, jetzt sofort, ehe sie sie völlig vergisst. Wie bei der klassischen
Löffelliste wünscht sich Gloria eine letze Reise gemeinsam mit Hattie nach
Cambridge und Yorkshire an die Orte ihrer Jugend. Gloria, ganz das rebellische
Gegenstück zu ihrer perfekten Schwester Gwen, wurde ebenfalls mit 17 ungeplant
schwanger. Nur konnte sie sich damals auf keinen Fall jemandem anvertrauen.
Gloria wurde in ein abgelegenes streng religiöses Mutter-Kind-Heim geschickt,
noch ehe die Schwangerschaft sichtbar wurde, ihr Kind zur Adoption frei gegeben.
Parallel zu Glorias Erzählungen aus der Ichperspektive befasst sich Harriet
theoretisch mit dem Problem der Altersdemenz - in einem Buch -, die sich bei
Gloria erst in ihrem Anfang zeigt. Als Hattie sich endlich einer Freundin
anvertraut, die ihr Wissen über Schwangerschaft ebenfalls aus einem Buch hat,
drängt Kat: Harriet, du musst einen Arzttermin machen, du musst etwas
unternehmen. Die Informationsbeschaffung der Mädchen wirkt in beiden
Problemfeldern befremdlich. Schließlich wird Carl aktiv und zeigt sich als der
verständnisvolle Erwachsene, den Hattie so dringend braucht.
Fazit
Clare Furniss zeigt glaubhaft, wie es dazu kommen kann, dass eine Jugendliche
ihre Schwangerschaft verdrängt und in ihrer Situation lange keine Hilfe sucht.
Hattie als zugleich mutige und hilfebedürftige Jugendliche finde ich absolut
glaubwürdig geschildert. Ihre trubelige Familiensituation mit wenig
familienfreundlichen Arbeitszeiten der Erwachsenen und temperamentvollen
jüngeren Geschwistern weckt Verständnis dafür, dass sie ihre Probleme so
lange vor den Erwachsenen verbergen konnte. Ihrer Protagonistin in der Gegenwart
stellt die Autorin eine Gesprächspartnerin gegenüber, die ihre eigene
tragische Geschichte schon längst hätte erzählen sollen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 17. April 2019 2019-04-17 09:02:35