Die Wiederkehr der "Massen"
Das Zeitalter des "reinen Individualismus" mit seiner ebenso rein
gedachten Bezogenheit allein auf den Aspekt der Selbstverwirklichung schien in
den letzten Jahrzehnten zumindest in den wirtschaftlich und technisch
hochentwickelnden Gesellschaften, vollständig das Modell der "Massen"
früherer Zeiten (eine Elite führt, die Massen folgen, die Massen waren dabei
vor allem ein Ort der "Lenkung" bis hin zur "Propaganda" als
eigenständige politische Größe, unter Einbeziehung auch der "Angst vor
der Masse" als umwälzende Kraft, so einmal aus der "Lenkung"
ausgebrochen) abgelöst zu haben. Doch die jüngsten gesellschaftlichen und
politischen Entwicklungen, der "neue Populismus" und die neuen
"Massenbewegungen" zeigen auf, dass dies ein trügerischer Eindruck
war. Wobei die Tendenz und die Funktion der "Masse" in der Gegenwart
doch unterschiedliche Strömungen zum traditionellen Verständnis des Begriffes
der "Masse" aufweist. Auf jeden Fall aber scheint es wieder in
Schlagweite zu geraten, dass "Massen mobilisiert werden….und mit Macht
historische Veränderungen herbeiführen (könnten)".
Ob Occupy, arabischer Frühling, Demonstrationen in Kiew oder Istanbul, die
"Masse macht sich seit etwa einem Jahrzehnt wieder deutlich, klar und
vernehmbar bemerkbar und "wälzt" durchaus auch um. Eindrücke, welche
die These der Autoren deutlich stützen, dass "die Massen… nie
verschwunden waren", sondern "neue Massen" entstanden sind,
"die man nur nicht als Massen wahrgenommen hat", weil sie nicht dem
klassischen Bild der "Masse Mensch" entsprechen. Vor allem, und darauf
verweist das Buch eindringlich, ist das Selbstverständnis der Beteiligten an
der Masse ein anders als historisch bisher betrachtet. Denn in der
"modernen Masse" versteht der Einzelne sich weiterhin als
"selbstbestimmtes Individuum", gar als "Singularität" in
Form einer "Teilmenge von Interessen" an und in der Masse.
Und neben dieser Beobachtung, im Blick auf Flüchtlingsströme und Populismus,
tauchen zudem "klassische Massen" am Horizont wieder auf, die sich von
"modernen Massenbewegungen" deutlich unterscheiden. Dies gemeinsam zu
betrachten und neue, sozialwissenschaftliche Theorien zu formulieren zum
Verständnis dessen, was passiert und wie man dem konstruktiv begegnen kann, das
ist Ziel und roter Faden dieses interessanten Werkes.
Wie entstehen aus unscheinbar wirkenden Anfängen "Massenbewegungen"
in Kultur und Politik? Und dies unter Einbeziehung des wahrlich neuen Aspektes
des Verhältnisses zwischen Masse und Individuum mit anderem als historisch
angenommenen Selbstverständnis? Was fast ein Paradoxum zu Beginn bereits
darstellt, denn eine klassische "Verschmelzung" in der Masse findet
nicht mehr statt, eine Tendenz zur Vereinzelung bleibt bestehen, aber
"hinter gleich aussehenden Hausfassaden", die wiederum Sinnbilder der
neuen "Massenkultur" sind. Was die Autoren damit auflösen, dass das
"Massenereignis" eben nicht mehr "vom Privaten ins
Öffentliche" drängt, wie zu früheren Zeiten, sondern vom
"Öffentlichen ins Private" tendiert, "das Massenhandeln wird
verinnerlicht". Gepaart mit einer "Konkurrenz diverser Massen"
untereinander und einem ebenso bestehenden Konkurrenzdruck in der jeweiligen
Masse.
Fazit
Was bereits vielfache Fragen und Themengebiete aufwirft, denen die Autoren im
Lauf der Lektüre gründlich und detailliert nachgehen und damit dem Leser
tatsächlich ein gutes Stückweit die "neue Welt" zu erklären
vermögen mitsamt vielfacher Anregungen zur eigenen Reflexion der eigenen Rolle
in all diesem Geschehen. Bis dahin, klarzustellen, dass "die Masse"
immer Orientierungspunkt für den Einzelnen ist, dieser aber nun als
"Masse" gezielt Einfluss auf die historische Entwicklung nehmen kann.
Ohne dabei, wie oft angenommen, alles Individuelle aufzulösen in einer
"Anpassung" an den Durchschnitt. Am Ende endet die Lektüre mit dem
Wissen, dass letztlich spürbare und weitreichende Veränderungen nur mit und in
der "Masse" sich vollziehen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 28. Februar 2019 2019-02-28 13:13:55