Im Jahr 2096 hat die Menschheit offenbar das Wasserproblem gelöst und den Mars
besiedeln können, konzentriert auf Mars-City. Weil den Siedlern nur Sand und
kein Stein zur Verfügung stand, wurde das Baumaterial Glas intensiv erforscht
und entwickelt.
Das Raumschiff Maerde ist auf dem Heimweg zurück zum Mars, an Bord sind 120
Besucher einer geplanten Marsmesse und 20 Schüler der Gruppe Merkur, die nach 5
Jahren von einem Schüleraustausch auf dem Planeten Erde zurückkehren. Eine der
Schülerinnen ist die 18-jährige Tänzerin Luoying Sloan, die beim Anflug auf
ihre Heimat grübelt, warum sie trotz schlechter Testergebnisse für den
Austausch ausgewählt wurde. Wie gegensätzlich die politischen Systeme auf Erde
und Mars sind, ist Luoying vermutlich erst aus eigener Anschauung auf der Erde
klar geworden. Dort unten herrscht knallharter Kapitalismus, jeder muss gegen
jeden um Arbeit, Wohnung und Erfolg kämpfen. Auch wenn Shopping als
Lebensinhalt die junge Frau eher abstößt, kann sie sich nur schwer vorstellen,
sich nun wieder in das rigide System im Stil der chinesischen
Danwei/Arbeitseinheit einzufügen, einem alles andere als utopischen Konzept des
20. Jahrhunderts. Von der Einschulung bis zum Tod wird für die Bürger des
roten Planeten von der guten Mutter Danwei alles geregelt. Daten, Kunstwerke,
Filme über sie und von ihnen sind in der allwissenden Cloud gespeichert, über
die wiederum strenge Zugangsregeln verhängt wurden. Luoying möchte sich für
keins der Systeme entscheiden, sich als Künstlerin frei entfalten wie die
Erdbewohner, aber trotzdem staatlich finanziert werden. Da ihr die Nachteile
allumfassender staatlicher Fürsorge allmählich klar werden, zögert sie noch,
sich in einer Einheit für Künstler zu registrieren.
Luoying ist nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrem Großvater Hans aufgewachsen,
dem Generalgouverneur des Mars. Nachdem sie ihre prägenden Jahre auf der ihr
fremden Erde verbracht hat, möchte Luoying endlich wissen, wie ihre Eltern ums
Leben gekommen sind und sie hinterfragt erstmals die Rolle des Großvaters als
Staatschef. Für ihr Alter und nach Jahren in einem konkurrierenden politischen
System wirkt Luoying für Europäer schwer vorstellbar naiv und
unselbstständig. Man fragt sich, wofür sie ihren privilegierten Status auf der
Erde eigentlich genutzt hat. Die Austauschschüler sehen sich ausdrücklich als
Jugendliche. Dass eine konkrete verantwortliche Rolle für sie auf dem Mars
nicht geplant ist, ist genau das Problem dieser Community. Alles Weitere regelt
die Einheit für sie …
Eine Gruppe zunächst dezent kritischer 18-Jähriger tritt den herrschenden
60-jährigen - Männern - gegenüber, die den Kontakt zu ihren Bürgern längst
verloren und ihr heimeliges Danwei-System bisher nie infrage gestellt haben. Mit
Igor, Luoyings Bruder Ronny und dem Einzelgänger Dr. Renny treten weitere
interessante Figuren auf. Charakteristisch finde ich das Fehlen der mittleren
Generation, deren Mitglieder vermutlich im Krieg zwischen den Planeten
umgekommen sind. Die Jugendlichen haben die Auseinandersetzungen mit der
Elterngeneratin während der Pubertät offenbar ausgelassen. Persönliche
Befindlichkeit und Varianten von Freiheit stehen im Mittelpunkt der Handlung,
die technischen Voraussetzungen für das Leben auf dem Mars spielen eine
Nebenrolle.
"Wandernde Himmel" erschien laut Nachwort zunächst in zwei Bänden.
Der ehemalige Band 1 "Die wandernde Maerde" entspricht in der
vorliegenden Ausgabe dem längeren ersten Teil "Rückkehr auf den
Mars". Band 2 "Rückkehr auf die Charon" wurde in dieser Ausgabe
zu den kürzeren Teilen 2 "Der einsame Planet" und 3 "Die Welt
von Morgen". Im ersten Teil erzählt ein allwissender Erzähler von der
Heimkehr Luoyings auf ihren Heimatplaneten. Mit ihr können sich sicher viele
Leser identifizieren, auch wenn ihre Naivität und das Fehlen konkreter Ziele
schwer auszuhalten sind. Die Sprache wirkt blumig-ausufernd, bisweilen
pathetisch, die Realität verharmlosend, stets bedacht, sich nicht festzulegen
- indirekte Kommunikation wie aus dem Lehrbuch. Obwohl ihr Großvater
Weltbürger zu sein scheint, denkt und spricht Luoying, als wäre sie
ausschließlich von chinesischen Kindermädchen aufgezogen worden. Einige der
benutzten Weisheiten sind geflügelte Worte der Gegenwart (Z. B. Du musst den
Leuten zuallererst einen Schuldigen präsentieren, die Katastrophe ist
Nebensache). Sie ließen sich perfekt für die Schulung von Europäern
einsetzen, wie China tickt.
Im zweiten Teil werden historische und wirtschaftliche Grundlagen, sowie
Einblicke in den Alltag ergänzt, die mich bereits zu Anfang interessiert
hätten, wie z. B. die Eigenheiten eines Wüstenstaates. Die Mitglieder der
Gruppe Merkur arbeiten nun ihre jeweiligen Reform-Vorstellungen heraus, mit dem
Ziel, gemeinsam das erstarrte System der Generation Sloan zu bekämpfen. Im
dritten Teil sind die strategischen Fehler der Generation Sloan so wenig zu
übersehen wie die Gemeinsamkeiten zwischen der Staaten Mars und Erde des Jahres
2096 und den heutigen politischen Verhältnissen.
Zuallererst bietet das Buch seinen chinesischen Lesern vertraute Konzepte
(Danwei, klassisches Hofhaus als optimale Bauweise). Es entlarvt gerade für sie
die fatalen Folgen davon, wenn Schüler nur Informationen bunkern, die sie weder
einordnen noch beurteilen können. Beeindruckt bin ich, wie viel Technologie-
und Kapitalismuskritik aus chinesischer Perspektive im SF-Roman möglich ist.
Fazit
Die Ähnlichkeiten der Verhältnisse auf dem Mars der Zukunft mit diversen
Staaten der Gegenwart im Jahr 2018 sind verblüffend, allen voran Deutschland.
In einer Soft-Science-Fiction-Handlung liefert Hao Jingfang eine ruhig
erzählte, glasklare Anleitung, wie alternde Politiker ihren Staat ruinieren
werden, wenn sie sich weiter an ihr Amt klammern, Frauen und junge Bürger von
Verantwortung fernhalten und nicht mehr mit denen sprechen, die sie regieren.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 02. Oktober 2018 2018-10-02 21:36:09