Willy Brandt hat die deutsche Nachkriegsgeschichte zweifelsfrei geprägt. Seine
(in der damaligen Zeit nicht unumstrittene) Ostpolitik sicherte der jungen
Bundesrepublik einen sicheren Platz im Konzert der europäischen Staatenwelt.
Sein Kniefall an der Gedenktafel des Warschauer Ghettos war nicht nur ein
Zeichen der Demut, sondern machte ihn überall auf der Welt bekannt und zumeist
auch beliebt. In der Zeit des "Kalten Krieges" besaß seine Ostpolitik
eine Art Vorreiterrolle in DER Konfliktzone zwischen West und Ost. Der Eiserne
Vorhang zwischen Bundesrepublik und DDR trennte die beiden Machtblöcke unter
der Führung der USA und der Sowjetunion.
Der renommierte Politikwissenschaftler und Historiker Michael Wolffsohn widmet
sein jüngst erschienenes Buch eben dieser Friedenspolitik des Bundeskanzlers
Willy Brandt, insbesondere in den frühen siebziger Jahren. War Willy Brandt
wirklich ein Friedenskanzler? Aus Sicht des Autoren gibt es doch eine ganze
Reihe Kratzer am (bislang makellosen) Lack der Friedenspolitik unter Brandt. So
sehr er sich ohne Zweifel um einen Ausgleich mit den osteuropäischen Mächten
erfolgreich mühte, so sehr gerieten andere Konflikte aus dem Fokus.
Insbesondere das deutsch-israelische Verhältnis nimmt Wolffsohn unter die Lupe,
besitzt das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in der historischen
Betrachtung einen tragischen Hintergrund.
Inhaltlich beleuchtet Wolffsohn das traditionelle Judenbild der deutschen
Sozialdemokraten und beurteilt dies als konfliktbeladen. Dies könnte auch ein
Grund für die Tatsache sein, dass die sozialliberale Regierung die Konfliktzone
"Nahost" räumlich anders deutete. Der "nahe Osten" lag eben
in Osteuropa und weniger im nordostafrikanisch-asiatischen Raum. Isarel in
seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen arabischen Staaten kämpfte um sein
politisches Überleben und hätte Willy Brandt und seine Regierung gerne als
Friedensmittler gesehen; nicht zuletzt, da Deutschland und sein Auswärtiges Amt
traditionell auch über gute Beziehungen zu den arabischen Staaten verfügte. So
recht "anbeißen" mochte Brandt aber nicht, sondern überließ
weitreichende Entscheidungen untergeordneten Stellen.
Wenig stringent erscheint dem Autoren auch das Verhalten des deutschen
Regierungsapparates während und nach dem Terroranschlag im Rahmen der
Olympischen Spiele 1972 in München, bei dem einige israelische Sportler durch
arabische Terroristen ermordet wurden. Die anschließende Freipressung der
überlebenden Attentäter aus deutscher Haft erscheint in der Darstellung des
Buches als vorhersehbare Konsequenz. Kritisch beleuchtet Wolffsohn nicht nur das
deutsch-israelische Einvernehmen, das zu damaliger Zeit zu großer Enttäuschung
auf israelischer Seite führte, sondern das Vorgehen verursachte auch Spannungen
im Rahmen den NATO-Bündnisses, insbesondere im Verhältnis zur führenden
"Schutzmacht" USA.
Fazit
Michael Wolffsohn schreibt sein Werk, wie von ihm gewohnt, kurzweilig und in
sich schlüssig. Auch insofern ein hochinteressantes Buch mit neuen Aspekten und
Sichtweisen zur deutschen Aussenpolitik Anfang der siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts. Ein Buch, das den Leser fesselt und zum Nachdenken anregt.
War Willy Brand Friedenskanzler, oder war er auf der anderen Seite auch der
Kanzler vertaner Friedenschancen in einer Region, die in seinem politischen
Kalkül scheinbar lediglich eine untergeordnete Rolle spielte? Der Autor nimmt
(nicht zuletzt aufgrund seiner Vita) eine eher kritische Sichtweise ein. Der
Leser ist gefragt, eine eigene Position zu finden.
Vorgeschlagen von Dietmar Langusch
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veröffentlicht am 01. Oktober 2018 2018-10-01 20:43:23