Hervorragend auf den zweiten Blick
Ganz eigen im emotionalen Ton färbt Thorsten Palzhoff seinen neuen Roman. So,
dass es dem Leser zunächst fast vorkommt, als wäre der Autor nicht unbedingt
emotional interessiert an seinem "Felix" und den anderen auftretenden
Personen. Doch es dauert nicht lange, nur ein paar Seiten, da verfliegt dieser
Eindruck. Genau dann, wenn man den Inhalt in sich aufnimmt und feststellt, wie
akribisch und genau selbst in Kleinigkeiten wie der Beschreibung eines
Bleistiftes oder eines Stapels Papier, einer Gefängniszelle oder einem
menschenüberfluteten Platzes in Leipzig (ja, es gab
"Montagsdemonstrationen" auch nach Erreichen der vordringlichen Ziele
dieser Demonstrationen) Palzhoff die Welt des Romans darlegt.
Eher nüchtern im Ton, eher ein wenig distanziert (wie der Protagonist dieser
"andersherum" West-Ost Geschichte) aber umso treffender im Zustand der
Personen, im inneren Erleben, in den Zweifeln, den ergriffenen Chancen ebenso,
wie den verpassten Chancen. Mit einer Liebesgeschichte, die auf Lüge berührt
aber tief wahr ist, mit genau passenden sprachlichen Mitteln, um präzise die
Atmosphären der Orte dem Leser zu vermitteln. Vom eintönigen Aufwachsen und
Leben "in der westlichen Provinz", von der "hinfort gleitenden
Mutter" bis zum Vater, der sich, im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltig an
seinem "Standard-Unterhaltungstrick" verschluckt hat. Wie eine
überstürzte Flucht dann der Weg nach Leipzig, der nicht nur Visite bleiben
wird, sondern, auch hier eine Gelegenheit eher nebenbei ergreifend, eine zweite
Identität gebären wird. Die wiederum, und auch dies zeugt von der Qualität
Palzhoffs, nicht als altbekanntes "Verwirrspiel" inszeniert wird,
sondern tatsächlich eine andere, zweite, neue "Person" in der eigenen
Seele verankert (mit Grund).
"Ich selbst – das gebe ich zu – habe die Abschaffung von Felix Fehling
(ein kleines, feines, effektives Wortspiel im Nachnamen selbst) als Erlösung
aus einem falsch programmierten Leben empfunden".
Und dies auf dem Hintergrund der ebenso sorgsam wie unterhaltsam nun aus
"westlicher Sicht" als "Neu-Ostler" gestalteten Atmosphäre
der Ereignisse der Wendezeit in Leipzig, die eine "Neuschaffung" der
eigenen Person ebenso ermöglichen, wie eine "Neuschaffung" der
bisherigen Welt für all jene, die sich nun "anderen Umständen"
entgegen recken oder notgedrungen stellen müssen. Wobei auch in den Tonfall und
die Rahmung der Geschichte passt, dass dabei die Liebe eine bedeutende
("Schon auf dem Betriebsfest war ich bis über beide Ohren in dich
verliebt), aber eben nicht die grundlegende Rolle spielt (sie die "falsche
Programmierung").
Wobei zu Anfang, in der Gegenwart des Romans (1995) sitzt der, zu diesem
Zeitpunkt, gar nicht mehr so neue "Tobias Voss" in Osteuropa
(geschäftlich unterwegs, kleiner Autounfall) vor einem Polizisten und sollte
sich doch rasch eine Erklärung überlegen für die beiden Faxausdrucke auf dem
Schreibtisch mit der Kopie von zwei verschiedenen Ausweisen. In der Zelle,
allein mit Stift und Papier, erzählt er seine Geschichte. In der, natürlich,
immer wieder in kleinen Einschüben die Gegenwart der Verhaftung ihre Rolle
spielen wird. So dass auch der Spannungsbogen des Romans, die Frage, wie das
ausgehen wird, dieses "Ertappt-Sein", den Leser durchweg bei der
Lektüre verhaftet. Oder steckt gar mehr hinter all dem, was jener Tobais /
Felix da alles seiner "Liebe" aufschreibt?
Fazit
Eine intensive Lektüre, die tief in Lebensgefüge, Lebenshaltungen, Umgang mit
rasanten Veränderungen eindringt und mühelos eine ansprechende, innere
Spannung von Anfang bis Ende durchhält.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 08. Mai 2018 2018-05-08 10:34:06