Differenzierte und vielseitige Darstellung
"Nitzsches Welt", "Nitzsches Nachwelt", "Nitzsches
Zukunft" - Das sind die drei Hauptteile der sehr flüssig zu lesenden,
fundierten und überaus differenzierten Darstellung, mittels derer sich Andreas
Urs Sommer diesem streitbaren, wuchtigen Philosophen mit der, letztendlich,
dramatischen Lebensgeschichte und der breiten Wirkung seiner Gedanken und
Erkenntnisse zuwendet. Und ohne Einleitung oder andere, hinführende Worte
wendet sich Sommer umgehend der Person zu und verweist ebenso umgehend zu Beginn
auf die fast erstarrten Bilder, die von Nietzsche "geistern" und,
nicht selten, den konkreten Blick auf die konkrete Person und deren Werk
versperren.
"Der, hinter dessen Schnauzbart das halbe Gesicht verschwindet? Es scheint
jedenfalls, als sein in der Wahrnehmung seiner Nachwelt dieser Schnauzbart immer
weiter gewachsen, so dass am Ende der Schnauzbart alleine übrig blieb: das
markante Schnauzbartgesicht reduziert auf markante, markige Worte, wie das vom
Weibe und der Peitsche oder das vom Willen zur Macht und das vom
Übermenschen".
Dieser Einseitigkeit der Betrachtung mitsamt der damit einhergehenden
Reduzierung von Person und Werk auf Schlagworte setzt Sommer eine differenzierte
und sorgfältige Spurensuche entgegen, innerhalb derer Begriffe wieder
geschäft, Die Prägungen der Person erkennbar und Mann und Werk sichtbar
werden.
"Er scheint ein Denker zu sein, der dazu einlädt, dass man ihn
vereinseitigt".
Wohl auch mit Absicht, denn Sommer legt ebenfalls im Werk dar, dass und wie
Nitzsche selbst ein "Meister des sich Entziehens" war. Einer, der
schon in der von ihm gewählten Sprache immer neu ansetzte, sich bekannten
Formen entzog. Und das als System, denn wie ein pädagogisches Ziel war Nitzsche
auch davon motiviert, "frische Luft" in die Denkapparate seiner Leser
durch besonders gewählte Formen des Ausdrucks hinein zu "pusten".
Auch so ist sein "neuer Anfang in "historischen
Philosophiren"" zu lesen und zu verstehen. Mitsamt dem Kernanliegen
Nitzsches, dem "Experiment zur Umwertung". Das Sommer verständlich
darstellt und in dessen Kontext die "Ermordung Gottes" und
"Zarathustra" gut zu verstehen sind.
Und bei all dem vergisst Sommer nie den Blick auf das "menschlich-allzu
menschliche", auf eine gewisse "Leichtigkeit des Seins" bei
Nitzsche, dass er interessant gegenspiegelt in der "Nachwelt" mit
ihrem vielleicht "zu ernsten" politischen, künstlerischem,
philosophischen "Nachbetrachten" mitsamt des "Wort- und
Ernstzerfalls", der ebenso zur Rezeption des Werkes dann gehört. Ironie
und Heiterkeit, das legt Sommer überzeugend vor Augen, gehörten ebenso zur
Person wie Wucht und Lust an der (zumindest gedanklichen) Zerstörung
althergebrachter Überzeugungen und Traditionen. Durchaus in Nitzsches Sinne,
wenn dieser schon 1848 betonte, ihm mache "der Gedanke Schrecken, was für
Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen
werden". Eine Gruppe, zu der Andreas Urs Sommer nicht gehört, das ist am
Ende der Lektüre klar und deutlich.
Fazit
Ein Werk, dass seine selbst auferlegte Aufgabe erfüllt. Im Blick auf Nitzsche
ein intuitives "Reit-Reaktions-Schema" zu vermeiden, einen Schritt je
zurückzutreten und sich damit blinder "Hauptlehren-Reaktionsmuster"
zu entziehen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 03. April 2018 2018-04-03 10:47:38