Opfer ja, aber auch Täterin?
"Ich stieß die Tür auf ein Stück auf und dann noch ein Stück, die
Zähne in der Birne vergraben. Vater lag auf dem Sofa, er hatte sich nicht
gerührt".
Was klar ist, denn Lizzie, die sich gerade in Ruhe eine Birne genommen hat,
vorher in Panik fast die Haushälterin zum Arzt ausgeschickt hatte und noch
davor ihren Vater mit zerfetztem Gesicht in einem See von Blut auf dem Sofa
gefunden hatte, weiß ja Bescheid. Oder nicht? Schon die ersten Seiten packen
den Leser, stellen die Frage, die den gesamten Roman gegen über in Spannung
halten, verwirren, sich erst langsam zu manchen Klarheiten entwickeln. Ist
dieses Kind Lizzie eine Mörderin?
Hat sie ihren Vater kühl "abgeschlachtet"? Ist sie nur Zeugin, Opfer,
traumatisierte "Finderin" der Tat? Ist sie klar im Kopf oder fast
schizophren, pathologisch gestört? Wechselt sie die Realitäten oder hat einen
Plan? In der Realität wurde Lizzie Borden nicht als Mörderin verurteilt, auch
wenn starke Verdachtsmomente im Raums standen, es zum Prozess kam und das
gesamte Umfeld sie für schuldig hielt. Was aber könnte wirklich geschehen
sein?
Sarah Schmidt rollt den Fall, einen der bekanntesten der US-Justizgeschichte,
auf. Ruhig in der Sprache und dennoch packend in der Emotion. Und nicht als
"Reportage" oder Aneinanderreihung von Indizien "von
außen", sondern als innerfamiliäres Drama aus verschiedenen Perspektiven
der Verwandtschaft, der Hausangestellten und eines anderen Beteiligten. Mit
zunächst unklaren Rollen, mit vielen Fragen, die sich vor dem Leser auftun.
Wobei es nicht lange braucht, bis klar wird, dass Lizzie Borden auf jeden Fall
(aber auch vor allem?) Opfer ist. Und nicht das einzige jener damaligen
grausamen, harten Familienrealität, die nach außen kaum zu erkennen war. Mit
Drehungen und Wendungen innerhalb der Beziehungen, Argwohn und Konflikten, die
deutlich vor den Morden bereits ihre Spuren gezogen haben und im Lauf der
Lektüre nicht wenige mit Motiven und Möglichkeiten versehen, nicht nur
Lizzie.
Nähe und Distanz, Wärme und Kälte, Liebe und Hass, fast alles zugleich oder
zumindest in verschiedenen Graden den Alltag prägend, Sarah Schmidt hat sich
spürbar vertieft. In den Fall, in die Indizien, in diese Familie und das
Umfeld. Und schafft durch vielfach nur Andeutungen, zunächst wenig
erklärlichen Verhaltensweisen, eine beklemmende Atmosphäre, die dem Roman (und
dem Geschehen) bestens zu Gesicht stehen.
"Ich hätte Fragen sollen, wie viele Fotos brauchen Sie? Wie nah soll ich
herangehen? Welcher Winkel führt Sie zu dem Mörder"? das sind die
Gedanken, die den Leser in Lizzies Kopf eintauchen lassen, als der
Polizeifotograf am Tatort fast überfordert ist, den Kopf des Toten kaum
fotografieren kann. Sind das Gedanken einer geschockten, geliebten Tochter? Ist
das überhaupt normal?
Fazit
Eine packend erzählte Justizgeschichte, welche die Autorin mit ihrer dichten
und den Protagonisten unmittelbar nahen Sprache hervorragend erzählt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 12. März 2018 2018-03-12 12:52:52