Scarlet hat keine Zeit dazu, Kind zu sein, weil ihre Mutter in der Familie nicht
die Rolle eines Erwachsenen ausfüllt. Die Mutter der Zwölfjährigen lebt in
ihrer eigenen Welt und nur Scarlet kann mit ihrem jüngeren Bruder Red umgehen.
Diese falsche Einschätzung kann Scarlet lange nicht infrage stellen. Nur
Scarlet kann Red die Geschichte richtig erzählen, die in den Sümpfen Trinidads
spielt. Zu Trinidad hat Scarlet eine besondere Beziehung, weil von dort ihr
Vater stammt, der die Familie schon vor langer Zeit verlassen hat. Red leidet
vermutlich unter einer Form von Autismus und muss sich deshalb selbst gesetzten
strengen Regeln unterwerfen. Wird Red z. B. in seiner Ins-Bett-Geh-Routine
gestört, muss er noch einmal ganz von vorn beginnen. Scarlet teilt das Geld
ein, kümmert sich um Red und achtet darauf, dass die Regeln der
Sozialpädagogin Mrs. Gideon eingehalten werden, die die Familie regelmäßig
überprüft. In Mrs. Gideons Macht steht es, die Kinder aus der Familie zu
nehmen und dabei auch voneinander zu trennen. Red war früher bereits in einer
Pflegefamilie. Dass die Familie nicht mit ihm klar kam, scheint völlig
logisch; denn besser als Scarlet kennt niemand den Jungen.
Nach einem Wohnungsbrand müssen die therapiebedürftige Mutter und die Kinder
sofort als Notfälle untergebracht werden. Scarlet kommt in eine Pflegefamilie;
wohin Red gebracht wird, verschweigen die Erwachsenen ihr. Weder mit
Pflegemutter Renée noch mit einer Schulpsychologin scheint Scarlet über ihre
Familiensituation zu sprechen. Obwohl das Mädchen bei Renée und ihrer Familie
zum ersten Mal die Gelegenheit hat, sich wie eine zwölfjährige Schülerin zu
verhalten, setzt sie alle Hebel in Bewegung, Red aufzuspüren. Dass Scarlet
nicht von Experten erklärt wird, welche Hilfe ihr Bruder braucht, lässt in
dieser etwas zu märchenhaften Geschichte die Ereignisse durch Scarlets
kindliche Lösungsversuche eskalieren.
Familienstrukturen, in denen ein Kind die Rolle des Haushaltsvorstandes
übernimmt, weil die Eltern dazu nicht in der Lage sind, und Autismus gehören
zu den Klassikern im Problembuch für Kinder. Aber müssen es gleich so viele
Probleme sein wie hier? Ausgrenzung von Kindern aus bi-nationalen Beziehungen,
psychische Krankheit, Autismus, Kinder in Pflegefamilien und das Trauma der
alten Vogel-Lady, all das reißt Gill Lewis nur sehr kurz an. Für ein
Kinderbuch kommt mir Scarlets Einsicht zu spät, dass manche Erwachsene Kindern
wie ihr zur Seite stehen und auch mit autistischen Kindern umgehen können.
Fazit
Für die Zielgruppe von Lesern ab 10 finde ich die Botschaft des Buches nicht
besonders sinnvoll, dass Geschwister eines behinderten Kindes Probleme ohne
professionelle Hilfe entweder selbst lösen müssen oder glückliche Zufälle zu
Hilfe kommen. Die Geschichte ist zwar stimmungsvoll erzählt, bleibt inhaltlich
jedoch hinter dem zurück, was 10- bis 13-Jährige heute über
Entwicklungsstörungen wissen - oder sich zum Thema flink aneignen können.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 09. August 2017 2017-08-09 08:26:26