Leben im "Fit".
Ein wissenschaftliches Leben im Dienst der Entwicklungspsychologie mit dem
Schwerpunkt "Wachstum und Entwicklung", zunächst im Blick auf Kinder
und deren "Werden einer Person" ist der Hintergrund, den Remo H. Largo
mitbringt und auf dessen Basis er dieses sehr differenzierte, sehr fundierte und
sehr verständliche, empathische "Magnum Opus" nun vorlegt. Mit dem
(aber nicht dem einzigen) Kernsatz: "Jeder Mensch will seine Begabungen
entfalten, um dabei immer mehr er selbst zu werden". Eine Einsicht, die
nicht nur jeder psychologischen Schule zugrunde liegt, die nicht nur am Anfang
auch allen therapeutischen Fragens stand, sondern die nun eben durch
langjährige Feldforschungen und Beobachtungen gesichert im Raume steht.
Wie nun aber findet sich das individuell "passende Leben"? Das mag in
vorherigen Jahrhunderten einerseits leichter gewesen sein (aus Mangel an
Alternativen oft und einer klaren Rahmung und fast "Vorzeichnung"
bestimmtet Lebenswege), andererseits, wer sich damals nicht in den
übersichtlichen Angeboten bereit war, zurecht zu finden, der hatte hohen
sozialen Druck zu überwinden, er oder sie selbst zu sein, gekoppelt nicht
selten auch mit dem Verlassen der angestammten "Heimat-Gruppe". In der
Gegenwart sind die möglichen Lebenswege und deren jeweilige Sinnstiftung
Legion. Auch das benennt Largo treffend: "Unsere Individualität zu leben
ist eine Herausforderung, die uns ein Leben lang auf Trab hält".
Kein einfacher Ratgeber mit schematischen, nur zu "übernehmenden"
Lebensregeln also liegt hier vor, kein Schwarz-und Weiß denken, dem man
entweder angehört oder eben "versagt". Sondern Largo stellt
Paradigmen vor, innerhalb derer der Leser dann je für sich selbst sich auf die
Suche zu begeben hat. Wer bin ich, was will ich und wie bekomme ich das (im
Rahmen eines solidarischen Lebens)? Um hier Antworten und Wege zu finden dienen
Paradigmen des "Fit-Prinzip", das im Kern das "Programm" des
Buches ausmacht (nach vielen vorarbeitenden Einblicken in die Entwicklung des
Lebens und der Persönlichkeitsfindung des Menschen).
Ein Prinzip aus Puzzlestücken, dass Largo zunächst in seiner Entwicklung
darlegt, um dann die einzelnen Elemente zu benennen. "Menschen können
nicht irgendein Leben führen, sondern nur ihr eigenes". Erreicht hat der
Mensch dieses (für den Augenblick, da immer wieder darum gesucht und gerungen
werden wird), wenn sich ein körperliches und seelisches Wohlbefinden unter den
Beigaben von Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit ausbalanciert einstellt.
Die in den "drei Grundkompetenzen" sich verwirklichen und nach außen
und innen zeigen:
"Grundbedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen" stellen im besten
Falle ein gemeinsames Ganzes dar. Wobei die Kompetenzen dazu dienen, die
individuellen (und gegenüber anderen immer auch verschiedenen)
Grundbedürfnisse zu befriedigen und diese mit den individuellen
"Vorstellungen" in Einklang zu bringen. Alle drei Paradigmen werden
von Largo differenziert unterteilt, so dass ein vielfältiges "System"
entsteht, dass der Leser sich aneignen und in dessen vielfach möglichen
Kombinationen und Schwerpunktsetzungen langsam ein Bild der eigenen Ziele,
Wünsche, stark ausgeprägter Grundbedürfnisse im Abgleich mit den eigenen
Vorstellungen und denen der Umwelt entfaltet.
Erleichternd einerseits, aber leicht auch verunsichert und bedrängend
andererseits sind die Schlüsse, die Largo als Zwischenschritt aus all dem
zieht. Beunruhigend vor allem für jene Leser, die sich in "festen
Systemen" eingerichtet haben und in der klaren Unterscheidung von
"Richtig und Falsch" äußere Sicherheit und innere Beruhigung
zunächst finden. "Die 'einzig richtigen', für alle Menschen gültigen
Vorstellungen, etwa religiöser Art, gibt es nicht".
Hier stellt das Werk nicht geringe Ansprüche an eine Gesellschaft, die vielfach
darum ringt, sich äußerlich abzusichern, um innerlich nicht ständig in
starker Beunruhigung sich zu finden und die ihre Zugehörigkeitsgefühle vor
allem durch übereinstimmende Werte (und Feindbilder) definiert. Religionen,
Fans von Vereinen, Parteizugehörigkeit, all dies wird von Largo nicht negiert,
aber in Bezug auf die Aufgabe zur Individualität als nicht passender Weg einer
inneren, freien, persönlichen Entfaltung gesehen.
Das jeder Mensch seinen persönlichen Weg einzeln durchdeklinieren muss und die
"Antworten anderer" dabei nur bedingt hilfreich sein können, das ist
das überaus Fordernde der Erkenntnisse und Schlüsse Largos. Aber wer dem
widerspricht, der ist zugleich genötigt, die jahrelangen Forschungsergebnisse
zumindest in Teilen zu negieren und das dürfte schwerfallen.
Fazit
Ein Buch, dass dem Leser die Richtung eines "passenden" persönlichen
Lebens wahrlich eröffnet, dieses Chance und Notwendigkeit fundiert begründet
und einen Rahmen setzt, in dem jeder sich auf die Suche machen kann (und, nach
der Lektüre, tatsächlich auch machen sollte).
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 09. Juni 2017 2017-06-09 12:13:45