Kritische Streitgespräch
Beide Autoren stehen je zunächst für eine kritische Haltung vor allem zur
"weltlichen Seite" des Islam (Abdel-Samad mit einer eher düsteren
Prognose für eine Frage nach der Wandelbarkeit des Islam, Khorchide in anderer
Weise für eine Bewahrung des Islam als "spirituelles Angebot" mit
mehr Optimismus) und beide sind in konservativen islamischen Kreisen bereits
harsch kritisiert worden. Unbestritten aber ist, dass in einer globalisierten
Welt, in einem zunehmenden Austausch der Kulturen, in offen vorliegenden und zu
erkennenden Schwierigkeiten der Integration, die Frage nach der weiteren
Entwicklung und der kulturellen Zukunft des Islam innerhalb westlicher
Gesellschaften einerseits und als Gegenüber zu westlichen (und den anderen)
Gesellschaften (der Welt) andererseits, eine hohe Gefahr dauerhafter Reibung und
zunehmender Gewalt droht. Die durchaus auch von islamischer Seite deeskaliert
werden müsste, um eine gemeinsame, friedlichen Zukunft zumindest denkbar zu
machen.
Anhand von 95 Thesen (in Reminiszenz an die protestantische Reformation) zeigt
das Werk dabei die Unterschiede der Haltung beider Betrachter klar auf, ergibt
jedoch ebenso eine gewisse Art der Teilmenge. Einigkeit herrscht,
augenscheinlich, darin, den Islam (oder die Religion als solche, wie Khorchide
betont) aus der weltlichen Verflechtung zu lösen und ausschließlich der
inneren Spiritualität zur Verfügung zu stellen. Eine Richtung, die Khorchide
ein um das andere Mal aus dem Koran heraus begründet und diese mögliche
private und politisch liberale Form des Islam in konkreten Texten begründet.
Was allerdings, ehrlich gesagt, wenig nutzt, wenn "die islamische
Welt" (in ihrer konservativen bis radikalen Ausprägung) solche Seiten des
Koran in der Glaubenspraxis weitgehend ignoriert. Da neigt der Leser im Gesamten
zwar durchaus dazu, Khorchide Recht zu geben, allein der Glaube an einen solchen
"Rückzug aus dem Anspruch der Weltgestaltung" fällt doch angesichts
der konkreten, praktischen Lage nicht einfach. Abdel-Samad hat da die eher zur
Realität passenden, wenn auch radikaleren Argumente, auf seiner Seite, indem er
dem Islam von der grundsätzlichen Ausrichtung her bereits eine
Reformationsfähigkeit abspricht. Im Kern bezieht sich Abdel-Samad dabei auf das
allumfassende, auch die weltliche Herrschaft einbeziehende, Gottesbild des
Islam, bei dem Widerspruch nicht gestattet, andere Lebensformen unrein und die
Welt durch islamische geistliche Führer zu regieren ist.
Natürlich ist es eine Zuspitzung, die Frage zwischen beiden Autoren zu legen,
ob Allah nun ein barherziger Hirte oder ein grausamer Tyrann ist. Aber auch hier
kann man zwar Khorchide folgen, der an vielfachen Texten das Barmherzige belegt,
um am Ende doch vor der Frage zu stehen, ob diese Seite Gottes im Islam nur dem
gläubigen Moslem gilt. Ähnliches ist bei der Diskussion um das Kopftuch zu
finden. Die "gelehrte Haltung" Khorchides sieht die Notwendigkeit
einer "Revolution" durchaus, beharrt aber auf der Religionsfreiheit
und der "freien Entscheidung", die das Kopftuch als Symbol überall
ermöglichen müsste, wenn es in "rechter Haltung" getragen
wird". Der "Praktiker" Abdel-Samad sieht auf die Fakten der
Geschichte und lehnt das Kopftuch "als Zeichen der Diskriminierung und
Sexualisierung der Frauen" grundlegend ab.
"Das wäre, als ob man heute behaupten würde, die Nazi-Symbole hätten mit
er NS-Zeit nichts zu tun, sie drückten nur die Verbundenheit... zum Heimatland
aus".
Man könnte am Ende die Positionen derart kennzeichnen, dass Abdel-Samad der
"westlichen Kultur" eingängigere Haltungen und Argumente anführt,
während Khorchide eher "inner-religiöser" sich ausrichtet. Wobei
wahrscheinlich, wenn man es offen und rein praktisch betrachtet, genau diese
Position eher zum Austausch, zur Diskussion, zum Gespräch, zu einem gewissen
Fortschritt führen würde und könnte. Wenn ein solcher zunächst gewollt und
dann auch möglich ist (worauf Abdel-Samad sein Vertrauen nicht setzten würde).
Im Gesamten aber eine hoch lesenswerte Lektüre, denn nicht nur zwei
verschiedene Positionen kommen hier zu Wort, sondern viel Hintergrundwissen für
den interessierten Leser wird ebenfalls durch das Buch vermittelt. So steht am
Ende der Lektüre eine gewichtige Zahl an fundierten Argumenten vor dem Leser
und ein durchaus tieferes Verständnis des Islam als solchem mit seinen
"beiden Seiten".
Fazit
Die eben, je nach Lesart, verschiedenen Gruppierungen jeweils handfeste
Argumente liefern. Was am Ende das praktische Problem war, ist und zunächst
bleiben wird.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 29. Mai 2017 2017-05-29 12:02:32