Als 1945 zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Rote Armee vorrückt, setzt in
Königsberg Agnes von Kolberg ihren jüngsten Sohn in einen der letzten Züge
in Richtung Westen und steigt selbst wieder aus. Zusammen mit Emma, die selbst
noch ein Kind ist, wird Konrad in Sicherheit geschickt. Seine Erlebnisse auf der
Flucht werden ihm lebenslang Alpträume bereiten. Diese Szene des Prologs hält
den Spannungsbogen in Julie von Kessels komplexem Familienroman straff
gespannt. Was nach der Schlüsselszene auf Gut Altenstein genau geschah, wird
erst zum Ende der Handlung geklärt. Kuno von Kolberg war in zweiter Ehe mit
Agnes verheiratet, der älteren Cousine seiner ersten Frau. Beide bringen
Töchter aus erster Ehe mit in die neue Verbindung. Nach zwei weiteren Töchtern
wird dem Paar der ersehnte Stammhalter Moritz geboren und als 10. Kind ein
Nachzügler, Konrad. Die Familienverhältnisse der von Altensteins waren in
jener Zeit nicht ungewöhnlich. Zweite und weitere Ehen wurden zur
gegenseitigen Versorgung geschlossen; in Patchwork-Familien wuchsen
"meine, deine und unsere Kinder" auf.
Agnes, die nach 1945 Obst und Gemüse anbaut, hält eisern an ihrem Titel als
Gräfin und den Wertvorstellungen ostpreußischen Adels fest. Hauptsache man
stammt aus ehemals angesehener ostpreußischer Familie, egal welch windige
Gestalt sich hinter dem Titel verbergen mag. Die Rolle des Gesindes in Agnes
Haushalt haben Töchter und Enkelin zu spielen. Ihre Söhne entwickelten sich zu
komplizierten Persönlichkeiten. Moritz, studierter Forstwirt, gibt seinen
Grafentitel ab und lebt unauffällig bürgerlich. Tochter Nona studiert zu ihrer
Selbstfindung Psychologie, ihre Tochter Alexa verbringt viel Zeit mit
Großmutter Agnes. Als eine Rückübertragung des durch die
"Bodenreform" der DDR enteigneten Familiengutes möglich wird,
schiebt Agnes Lieblingskind Konrad die Angelegenheit zunächst vor sich her. Den
Vorsatz, eines Tages nach Altenstein in Brandenburg zurückzukehren, hat Agnes
- anders als die jüngere Generation - während der Zeit der deutschen Teilung
nie aus den Augen verloren. Die attraktive Lage des Familienbesitzes weckt nun
Begehrlichkeiten in beiden Familienzweigen. Konrad hat ein unstetes Leben
geführt, ohne begonnene Projekte je zu Ende zu führen. Aus dem pubertären
Posen scheint er mit fast 60 noch nicht herausgewachsen zu sein. Als
Geschäftsmann, der gern mit Adelstitel und Familienwappen wedelt, scheint
Konrad der ideale Vermittler zu sein, um das Gut wieder in den Besitz seiner
Familie zu übertragen. Das Nesthäkchen der Familie entwickelt Pläne, die ich
ihm nicht zugetraut hätte. Die Ereignisse spitzen sich nach dramatischen
Verwicklungen auf die Frage zu, wen der Vater zu Kriegsende als Erben
eingesetzt hat. Welcher seiner Nachkommen heute über Kompetenzen verfügt,
einen großen Grundbesitz zu verwalten, konnte Kuno Kolberg in den letzten
Kriegstagen kaum voraussehen.
In einem raffiniert verschachtelten, rückwärts aufgerollten Plot werden die
Lebenswege der Nachkommen Agnes und Emilie von Kolbergs aufgeblättert und mit
einer humorvollen Pointe gekrönt. Julie von Kessel erzählt diese komplizierte
Familiengeschichte mit Focus auf Konrad, Nona, Bobby, auf die Güter in
Ostpreußen und Brandenburg und auf gemeinsame Erlebnisse. Rückblenden folgen
keinem linearen Handlungsfaden, bis sich schließlich ein Mosaik der Ereignisse
zusammensetzen lässt. Das zeitlich versetzte Auftreten der Figuren sorgt für
Rätseln über Agnes Motive, bis die Ereignisse der letzten Kriegstage auf dem
Tisch liegen.
Fazit
Geschwisterbande, Geschwisterstreit, alte Verletzungen und paranoide Sichtweisen
Einzelner – "Altenstein" scheint als Familienroman mitten aus dem
Leben einer großen Familie gegriffen zu sein. So ist es, genau so funktionieren
Familien-Clans, habe ich beim Lesen oft gedacht. Wer hätte gedacht, dass ein
Familienroman so fesselnd sein kann.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 11. März 2017 2017-03-11 05:57:02