Sprachlich mitreißend und mit ganz anderem Blick auf das Leben
Von der ersten Zeile an stellt Stridsberg in ihrem neuen Roman Ihre
bildkräftigen, nuancenreichen sprachlichen Möglichkeiten überzeugend unter
Beweis. Jederzeit ist das Buch in der Lage, die beabsichtigte Atmosphäre, die
"Beleuchtung" in vielen Variationen und die inneren Empfindungen und
Entwicklungen der Figuren dem Leser griffig vor die Augen zu stellen. Der alte
Mann, der in einer öden Winternacht einen Mast hinaufklettert, Bild und Thema
des Romans zugleich, in dem die Grenzen zwischen dem normalen und dem
"ausgesonderten" Leben verschwimmen, in dem der Versuch (so gut wie
aller Personen im Roman) illustriert wird, "an die Oberfläche" des
eigenen Lebens zu gelangen. "Ausgesondert", weil der größte Teil des
Romans in einer der größten Nervenheilanstalten Europas, Beckomberga, spielt.
Und jener "Kletterer" der letzte Patient dort vor der Schließung war.
Und sehen musste, wie er sein Leben einigermaßen wieder in einen Rahmen
bekommt.
Wo Jackies, zu Beginn der Geschichte knapp 14 Jahre alt, Vater Jimmy Aufenthalt
nimmt. Woran nicht nur der Alkohol Schuld ist, sondern vor allem diese tiefe
Melancholie und Depression, die Jimmy ständig zum Selbstmord zu treiben
scheinen (und das bis in die Gegenwart der Erzählung hinein, als Beckomberga
schon längst geschlossen ist). Der aber auf dem vermeintlichen Weg in den
Suizid noch eine Menge Leben zu leben hat. Ein Arzt, der seine Patienten ins
Herz geschlossen hat. Ein Arzt, der immer wieder für "Ausgang" der
besonderen Art sorgt, wenn er mit einigen Patienten nachts Partys besuchen geht
und der Alkohol dabei durchaus kräftig fliesst.
Und, als Gegenbild zu diesem Arzt Edvard Winterson dann Lone, Jackies Mutter,
Jimmys Ex-Frau, die eher aus Pflicht in der Anstalt vorbeischaut und wie
gelähmt den Fragen Jimmy's, ob sie wegen ihm da sei, gegenübersteht.
Symbolisch für die gesamte Gesellschaft, die einerseits "sozial" sich
auch um jene kümmert, die nicht mithalten können, die andererseits dies aber
wenig aus "vollem Herzen" vollzieht.
Wobei eben im Lauf der von Stridsberg gesetzten "Erinnerungsstücke",
die nicht chronologisch geordnet im Roman erzählt werden (und am Ende eine
Collage aus Zeit, Raum, Beziehungen und Personen bilden), für den Leser immer
unklarer wird, wer denn eigentlich "gestört" und wer
"gesund" ist, wer sein Leben wirklich lebt und wer nur dahingleitet
durch die Tage. Eine ganz besondere, "ausgesonderte" Atmosphäre, der
Strindsberg intensiv ihre Beschreibungen der "Lichtlage"
korrespondieren lässt. Viele Nuancen des Tageslichtes, von strahlend bis trüb,
von klar bis neblig verwaschen kennzeichnen die Szenen, die Gemüter.
Ein Ort für eine Heranwachsende? Wohl eher nein, aber dennoch stehen die Räume
der Anstalt Jackie offen. Und sie würde nie von ihrem Vater lassen, diesen nie
im Stich lassen. Mit großer Selbstverständlichkeit und einem untrüglichen
Gespür für das, was guttut und hilft. Zumindest, was Jimmy angeht. Und nicht
nur die Räume, auch die Bewohner, die Menschen, der Arzt, Angestellt. Nicht
zuletzt Paul. Ebenfalls Patient. Ebenfalls oft "nicht von dieser Welt"
und doch die erste, intensive Liebe Jackies.
Und wer weiß, vielleicht liegt es an dieser besonderen Konstellation, dass
Jackie letztlich Beziehungen auf Dauer nicht viel abgewinnen kann und, später,
ihren Sohn Marion lieber alleine erzieht. Denn das Eigentliche des Lebens ist
doch, was sich miteinander in möglichst unvoreingenommener Liebe abspielt. Das
Herz ist der Ort des Lebens. Bei dem es vielleicht sogar gar keine Beine mehr
braucht, wie der alte Seemann im Buch sagen wird:
"Ach, diese Beine haben mich sowieso nie an einen schönen Ort gebracht.
Sie sind immer gegangen, wohin sie sollten…direkt in den erstbesten
Schnapsladen….."
Auch wenn der "letzte Patient" der Klinik, Olof, zu Anfang einen Mast
erklimmt. Es ist am Ende der Lektüre überaus verständlich, warum er das tut.
Ebenso, wie verständlich wird, dass für ihn ein anderer "Olof", der
Ministerpräsident mit dramatischem Ende werden wird, der größte
Hoffnungsträger ist. Olof Palme, der seine Mutter in der Anstalt eine Weile
lang täglich besucht, der in gewisser Form in eigener Person Garant des
schwedischen Sozialstaates war. Für den dieser Roman ebenfalls ein
eindringliches Plädoyer darstellt.
"Ich glaube, das Olof Palme an uns andere denkt, die nicht so erfolgreich
sind".
Denn in der Akzeptanz dessen, dass nicht alle "Gewinner" sein können
und "gewinnen oder verlieren" sehr relative Bewertungen sind Und die
äußere Lebensform wenig über die inneren Liebesmöglichkeiten aussagt. Jede
der auftretenden Personen, jede Szene, vom nächtlichen Kleiderwechsel bis zum
tiefen Nachsinnen über den besten Ort und die beste Art, seinem Leben ein Ende
zu setzen, werden dabei von Strindsberg ruhig, klar und doch immer emotional und
atmosphärisch dicht geschildert.
Fazit
Sprachlich, thematisch und in den Entwicklungen der Personen ein Genuss.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 24. Februar 2017 2017-02-24 14:20:13