Geht unter die Haut
Wer das Vergnügen hatte, eines der episch langen Konzerte von Bruce Springsteen
zu besuchen, wer zumindest Videoeindrücke solcher
"Arbeits-Veranstaltungen" hat, der weiß und hat vor Augen, wie
angespannt, fast starr, wie körperlich arbeitend Springsteen auf der Bühne
steht. Da gibt es keinen lockeren Hüftschwung oder kreisende Schultern, den
Unterkiefer nach vorne gepresst, der Körper unter Hochspannung und hoher
"Traglast" gespannt.
Dass diese Körpersprache zum einen dem Selbstbild des Musikers als
"Working-Class-Man" entspricht, dass hier seine familiären Wurzeln in
der rauen Welt der Arbeiterschaft liegen, dass aber diese immense Anspannung
(und das Halten und Nutzen der Gitarre teils wie ein schweres Arbeitsgerät)
auch der inneren Verfassung des Musikers entspricht, dass liest man mit
Faszination in dieser offenen, ehrlichen, in der Sprache authentischen
Autobiographie dieses Mannes, einer der weltweit populärsten Rockmusiker und
eine amerikanische, sozialkritische Ikone.
Dass einer wie er, so überhaupt, Formen der inneren Ruhe erst findet, wenn er
vollständig verausgabt und nass geschwitzt nach Stunden die Bühne verlässt,
das hat eben nicht nur mit seinem Anspruch zu tun, perfekte und bestmögliche
Performance für das Publikum zu liefern ("zu arbeiten"), sondern auch
mit der Beruhigung eigener, innerer Dämonen, die Springsteen offen schildert.
Eine Offenheit, welche diese Autobiographie zu einem dichten, anders als
gewohnten "Erlebnis" macht, die den Leser hineinblicken lässt in die
Seele, die innere Befindlichkeit des Mannes. Auf und neben der Bühne.
Der Perfektionist ist, der an jedem Song bis Ultimo feilt, der vieles an Musik
in der Schublade noch hat, weil es bisher seinen Ansprüchen an Sound,
Produktion, Abmischung oder anderem nicht genügt. Der seine Band, die
"E-Street Band" im Gesamten körperlich an den Rand führt. Der
tatsächlich "Im Lauf" ist. Ein stückweit "auf der Flucht"
vor den eigenen dunklen Seiten, ein "Born To Run", das den Leser teils
tief berührt und auf keiner Seite des umfangreichen Buches langweilt.
"Und aus diesem Grund rockt die E-Street Band…..Abend für Abend mit der
unverminderten Power einer Dampfwalze. Wir sind mehr als ein Konzept……Wir
sind eine Philosophie, ein Kollektiv mit einem professionellen
Ehrenkodex".
Wiedergeben, was an Leidenschaft der Fans im Raum steht. Nicht nachlassen. Alles
geben für "den Job", die Kunst, die Arbeit. Sichtbar sein, fassbar,
alles geben, was man hat, weil das einfach "Ehre" ist. Das ist die
eine Seite.
"Er wurde mein Freund und Ratgeber in einer Zeit, in der ich mich in
bedrohlicher Nähe zu meinen inneren Abgründen aufhielt".
Das ist die andere Seite dieser in 40 Jahren gewachsenen Ikone der Rock-Musik,
dieses sozialen Gewissens auf der Bühne, des Mannes, der sich nie scheute,
Randgruppen und Randthemen in eindeutiger Weise musikalisch zu verarbeiten. Der
nie woanders stand als auf der sozialen Seite des "Gewissens" Amerikas
und, letztendlich, der Welt.
Man mag seine Musik mögen oder nicht, aber diese Herangehensweise, den
"Job" vollständig ernst zu nehmen, diese dunkle Seite in sich zu
versuchen, in Schach zu halten, das beeindruckt. Und das alles in einem Tonfall
beschreben, der keineswegs von überbordendem Stolz auf die eigenen Erfolge
geprägt ist, sondern schlicht, einfach, offen und rau ein tatsächlich
intensives Leben erzählt.
Ein Leben, das nie seine Wurzeln vergessen hat, sondern diese als Haut mit sich
trägt.
Und zugleich lebenslang alles an Energie "verbrennt", um seine
Depressionen ein stückweit auf Distanz zu halten. Indem er körperlich alles
gibt, sich an Gewichten und an der Gitarre gleichermaßen verausgabt. Ein Mann,
"auf der Flucht", das aber "Flussaufwärts" gemeinsam mit
"seinen Jungs", allen voran lange Jahre der "Soubrother Nr.
1", Stevie van Zandt ("Little Steven").
"Wenn ich den Rock'n'Roll entfesseln will, brauche ich bloß Steve eine
Gitarre in die Hand zu drücken". (seit einiger Zeit bereits hat Nils
Lofgren diesen Part übernommen)
Und einer, der das alles über sein Werk und seine Person, sein Werden und Sein,
einfach, schlicht und geradeheraus jetzt im ganzen Umfang mitteilt.
Fazit
Eine überragende Autobiographie, eine offenes "sich Zeigen" ohne
Visier.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 02. Oktober 2016 2016-10-02 12:56:30