Die umfassende Suche nach Heimat
Zunächst muss man verstehen, dass der Titel des Buches auf den Beginn des
zweiten Buches Mose anspielt: "Dies sind die Namen derer, die mit Jakob
nach Ägypten kamen……" Denn gerade was die zusammengewürfelte,
verzweifelte Gruppe von Flüchtlingen angeht, die im Buch einen wesentlichen
Teil des Erzählstranges ausmachen, werden lange, lange Zeit keine Namen
genannt. Nur die Funktionen, die Namen untereinander "Der Afrikaner",
"Der Wilderer", "die Frau", usw.) dienen in der Gruppe zur
kurzen und knappen Benennung der anderen.
Was eine wichtige Funktion im Ablauf des Romans hat, denn Wiegand zeigt damit
konsequent zum einen auf, wie in dieser Gruppe von 5, 6 Personen sich "alle
Flucht" der Gegenwart symbolisch zeigt und, zum anderen, wird durch diese
distanzierte Benennung untereinander auch das zweite, für den Leser emotional
nicht immer leicht zu tragende, wichtige Moment der Flucht deutlich. Jeder geht
für sich. Momente der Solidarität und Nähe (als der "Afrikaner" mit
"dem Großen" eine Dose Nahrung teilt) sind rar. Eher bleiben manche
am Wegesrand liegen und werden noch um ihre Habseligkeiten von den anderen
erleichtert, bis hin zum Mord (der spirituelle Folgen haben wird).
Da ist keine Solidargemeinschaft, da ist kein gezieltes "Fliehen"
irgendwohin, da ist nur ein "Weg von" egal wohin auszumachen und dabei
steht jeder für sich. Opfer werden dabei einfach ignoriert (wie jene alte Frau,
die ausgeplündert, um ihren Wintervorrat erleichtert, einfach bei beginnendem
Schneefall in ihrer Hütte zurückgelassen wird). Das ist der direkte Strang des
"Exodus", der die eine Seite des Buches gestaltet. Dem zur Seite eine
"innere Seite" eines Exodus im Sinne einer Reifung und Befreiung zur
Seite gestellt wird.
Pontus Beg, Polizeikommissar in Michailopol, an dessen Grenze sich die
Flüchtlingsgruppe seit langem weitgehend im Kreise sich bewegt, ohne je eine
echte Grenze überschritten zu haben, zieht ebenfalls los. Innerlich. Heraus aus
seinem geregelten, ruhigen, langweiligen, unausgefüllten Leben, in dem die
leibliche Versorgung und der monatliche Sex mit seiner Haushälterin einfach
nicht zu echter Zufriedenheit führen, sondern die Leere immer härter ihn
bedrängt.
"Pontus Beg war nicht auf die Weise alt geworden, wie er sich vorgestellt
hatte".
Durch Zufall kommt er mit dem "letzten Juden" der Stadt, einem Rabbi,
zusammen und entwickelt mehr und mehr eine innere Affinität, eine Suche, die
ein Ankommen werden wird. Wie auch die Flüchtlinge ankommen und sich von da an
die beiden Erzählfäden des Romans zu einem Ganzen verweben. Anders, als
vielleicht zuvor bei der Lektüre gedacht, mit einer ebenfalls nur
"Hoffnung" am Ende. Aber einer greifbaren Hoffnung, einem sich
auftuenden Weg, der tatsächlich zu einem Ziel führen könnte. Für Beg und
einen der Flüchtlinge.
So stellen beide Momente des Romans letztlich doch einen einzigen Vorgang dar.
Das "Herausgehen" aus sich und / oder aus den Umständen, um ein
besseres Leben, einen eigenen Weg, eine innere und äußere Heimat zu finden,
die diesen Namen mehr verdient als das bisherige Leben angeboten hat. Wobei sich
dies in Teilen doch manchmal etwas zäh liest und die ein oder andere Länge und
Ungereimtheit (das Plündern und Zurücklassen der alten Frau wäre so nicht
nötig gewesen z.B), wie zudem Wieringa hier und da im Stil doch fast zu
distanziert und nüchtern verbleibt, gerade bei den "harten Momenten"
der Flucht auf allen Seiten.
Fazit
Insgesamt aber ein eindringliches Werk, dass die Suche nach sich selbst, einem
guten Leben mitsamt (immer) notwendiger innerer Entwicklung und (manchmal)
notwendiger äußerer Flucht bildreich aufnimmt und mit großer Klarheit
schildert.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 26. September 2016 2016-09-26 15:47:51