Die Wahrheit hinter den Geschichten
Eigentlich läuft es gut für Johanna. Berlin, mitten im Leben, gerade in der
Ausbildung (Straßenbahnfahrerin) und angekommen im Leben. In diesem Leben. Denn
daneben gibt es in ferner Vergangenheit noch ein anderes Leben, dass sie
einholen könnte. Ihr Vater, eher ihr "Erzeuger" gibt Nachricht.
Dieser liegt im Sterben und möchte seine ihm unbekannte Tochter sehen.
Vielleicht nachholen, was die ganzen 20 Jahre nicht im Raum stand, denn schon
vor Ihrer Geburt 1987 in der damaligen "Noch-DDR" war dieser Vater
bereits aus dem Lebend er Familie verschwunden. In den Westen gegangen, das war
die allgemeine Lesart.
""Das Kind kann mich ja mal zurückrufen", sagt er".
Johanne zweifelt. Stark. Aber sie ruft zurück, geht zu Besuch, meldet sich,
nimmt Kontakt auf. Und das nicht nur zum Vater. Auch eine "neue"
Halbschwester findet sie am Krankenlager des Mannes, Jens. Die eine andere
Geschichte zum plötzlichen Verschwinden des Vaters damals parat hat als jene,
die Johanna bisher für wahr gehalten hat. Und als die (ebenfalls bis dato ihr
unbekannte) Großmutter, die Mutter des Vaters, auftaucht, gibt es zugleich eine
dritte Variante der Geschichte vom damaligen Verschwinden.
Was ist wahr, was erfunden und ist das für heute überhaupt noch wirklich
wichtig? Sieht nicht jeder das Leben nur aus seiner Sicht und legt sich die
Fakten zurecht? Und trifft dies auch auf sie selbst zu, bei allen Versuchen,
eine klare und faktische Kontrolle über die äußere Welt zu erlangen?
Ereignisse, die zumindest die innere Balance der jungen Frau
durcheinanderbringen. Es mahlt im Kopf, sie beobachtet genau diese neue
Konstellation, versucht ebenso, Antonia, die neue "Schwester"
einzuordnen und zu verstehen, wie sie ein um das andere Mal an der
Sprachlosigkeit des Vaters "burschikos verzweifelt", denn dieser kann
im Verlauf der Krankheit nicht mehr sprechen und scheint auch ansonsten nicht
mehr "auf der Höhe der Zeit" zu sein.
Und mehr noch, immer deutlicher im Verlauf des Romans zeigt sich, dass Johanna
selbst von all dem damals geprägt wurde. Dass Zwänge im Raum stehen, dass da
schon lange was in ihr brodelt mit diesem Verschwinden des Vaters, der Trennung
der Staaten, der Mauer in Berlin und in den Köpfen der Menschen, damals. Wobei
eine gewisse Obsession für Landkarten ebenso ein Symptom für all dies ist, wie
die (leicht) schwankende Beziehung zu Karl, dem Kollegen und Freund.
"An einem Stand entdeckte ich eine Australienkarte und sah mir an, wo
Victor Harbor lag".
Das ist ihre Sache. Wissen, wo man ist und wo die Wege langlaufen, sich nicht
verirren im Leben. Aber "verirrt worden", das ist sie einfach schon
durch all die weltgeschichtlichen Ereignisse damals, zu ihren Kindheitszeiten.
Bei all dem verbleibt Fürstenberg in ihrer Schilderung der Aufarbeitung des
äußeren Ergehens der Beteiligten und der "wahren Geschichte" hinter
den Geschichten ebenso unprätentiös, wie sie die innere Entwicklung und
Entfaltung ihrer "Johanna" nüchtern, sachlich, teils burschikos im
Ton vor die Augen des Lesers legt.
Und damit durchaus feinfühlig den Spuren nachgeht, die die deutsche Teilung
auch in ihre Endphase noch in das Leben der betroffenen Menschen geschrieben
hat. Was im Roman auch faktisch passiert, denn Johanna wird auch eine Geschichte
beisteuern, sich eine Realität "erfinden", um das "echte
Leben" wieder "auf die Gleise" zu bringen.
Fazit
Ein rund zu lesendes Debüt, dass sich, noch einmal, der "alten DDR"
zuwendet und treffend aufzeigt, was diese für Spuren hinterlassen hat. Wie sie
ebenso treffend die subjektiven Sichten auf die "kleine Welt Familie"
glaubhaft nachvollzieht.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 23. September 2016 2016-09-23 13:50:04