"Aufmerksamkeitsethik"
"Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, so etwas wie eine
Aufmerksamkeitsethik für unsere Zeit zu entwickeln", wobei Crawford Ethik
im Sinne einer "umfassenden Reflexion über das Ethos, da wir
anstreben" definiert.
Schon die Wortwahl "so etwas" zeigt, dass Crawford ein schwierig
abgrenzbares und ebenso schwierig ganz konkret zu fassendes Feld betritt. Eine
gewisse "Schwammigkeit", die das ein und andere Mal im Buch ebenfalls
zu Tage tritt.
Was bereits beim Untertitel beginnt, denn es stellt sich ja von Beginn an die
Frage, ob es nicht ein "zu viel an Ich" in der Gegenwart geben könnte
statt ein "zu wenig" aufgrund einer "Zerstreutheit". Und ob
jene "Zerstreutheit", die Crawford benennt nicht ein vielleicht auch
passiver Zustand des "Ausgeliefertseins" an eine hohe Geschwindigkeit
der Zeit und eine Überforderung durch eine hohe Menge an Reizen und
Informationen sein könnte.
Mit Crawford einig kann der Leer allerdings auf jeden Fall in einer der
Grundbeobachtungen des Buches sein. Dass durch die Digitalisierung und die
zeitlich fast durchgängige Nutzung technischer Medien in der Gegenwart
grundlegende Formen des Haptischen, der "Aneignung der Welt durch reales
Befühlen" verloren gegangen ist.
Primäre Erfahrungen, die Grundlage jeder persönlichen Entwicklung, drohen
durch "indirekte Erfahrungen" verdrängt zu werden. Dies wäre zu
verstehen als reiner Verlust, nicht als "Ersatz" anderer, direkter,
fühlbarer Erfahrungen.
Eine Entwicklung, die zügig voranschreitet, die alle Bereiche des öffentlichen
Lebens mittlerweile betrifft und die, in den Augen Crawfords die größte
Schwierigkeit des Menschen in der Gegenwart, von "klein auf" an
eingeübt, "eingetrichtert" wird. Das mag als Scherz mancher Comedians
noch lustig wirken, wenn erzählt wird, wie der Nachwuchs versucht, im Aquarium
eines Zoos die Fische "größer zu wischen" wie auf einem Tablet,
aber, wie Crawford nicht müde wird, darzulegen, ist die Gesellschaft auf dem
besten Wege, den Kindern genau dieses "Annäherung an die Welt" mit
auf den Weg zu geben.
Das Sinnliche, Begreifbare, die handwerklichen Fertigkeiten, das aktive Umgehen
mit Material und auch Beziehungen, all das droht, durch eine rein passive
Haltung innerhalb von "Automatismen" der digitalen Konsumindustrie
verloren zu gehen. Bis dann der Mensch als "nur" perfekter Kunde und
Konsument unter von anderen vorgefertigten Wahlmöglichkeiten
"klickend" die Verfügungsgewalt und Freiheit der Wahl im
"wirklichen Leben" aufgibt. Unter Umständen auch noch, ohne dies zu
vermissen, vielleicht gar ohne dies zu kennen.
Und sich selbst in dieser "Klick-Welt" vollends aus den Augen
verliert.
"Daher ist er nicht in der Lage, sich der Kolonisierung seines Lebens durch
Scherereien zu widersetzen". Weil die klare Orientierung fehlt, was
"wichtig und richtig und wertvoll" von zu vielen (in den Augen
Crawfords) nebensächlichen Dingen mit besetzt werden und der Mainstream dann
letztlich einfach mitreißt.
Was auf der Strecke bleibt ist der Genuss, die Fähigkeit zur Freude über z.B.
"das Zusammensein mit Freunden als wichtig anzuerkennen".
Der Mensch verliert sich, seinen Kern, seine Fähigkeit zu klaren Werten in
einer Form "aufgedrängter Zerstreuung", die nicht planlos geschieht,
sondern System besitzt.
Trotz mancher Unklarheiten und schwer zu fassender Begrifflichkeiten, auch im
Blick auf die ein oder andere nicht ausführlich genug gesetzte
Hintergrunddarstellung (philosophische, politische und wirtschaftliche
Strömungen, die den gegenwärtigen Zustand in den Augen Crawfords befördert
haben) ist dies ein sehr interessantes, wenn auch nicht immer einfach zu
verstehendes Buch.
Denn Crawford lenkt den Blick auf die "Unachtsamkeit" des modernen
Lebens und die Zementierung der Entfernung von der "echten" Welt
bereits bei der grundlegenden Erziehung der Kinder.
Fazit
Nicht ohne Alternativen in den Raum zu stellen, wie statt Zerstreuung doch
wieder Konzentration entstehen kann und damit persönliche Werte zum einen
wieder entstehen können und diese, zum anderen, auf echten Erfahrungen und
Reflexionen dann beruhen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 15. August 2016 2016-08-15 11:48:11