Aus der Sicht von unten
Die eine Seite, das sind die offiziellen Verlautbarungen, die Aufmärsche, die
wirtschaftlichen und sozialen Beteuerungen, das ist auch die Stasi mitsamt ihrer
tausendfachen "IM". Und dazu gehören dann auch jene Zeitdokumente,
die öffentliche Darstellung darstellen, die in Nachrichten, Magazinen, bei
Besuchen hochrangiger Staatsbesucher vorgeführt wurden. Man erinnere sich nur
an diesen Weihnachtsmarktbesuch Helmut Schmidts, in dem eine Realität komplett
inszeniert wurde. Die andere Seite, das ist, was die Menschen wirklich bewegte,
wie es ihnen ging, was sie wollten und kundtaten. Und das liest sich in diesem
hervorragend zusammengestellten Band voller Briefe der DDR-Bürger nun in Teilen
ganz anders als jenes "Duckmäusertum", welches der Bevölkerung der
ehemaligen DDR doch gerne unterstellt wurde.
Auch wenn viele dieser Briefe ihren Adressaten nicht gefunden haben, abgefangen
wurden, auch wenn sich keine gravierenden Änderungen aufgrund jener Briefe
scheinbar ergeben haben, die innere Entwicklung im Land, die Steigerung der
Unzufriedenheit, der schärfer werdende Ton, all das lässt sich gerade in jenen
Dokumenten hin deutlich erkennen, die im Buch ab Anfang der 80er Jahre
hinzunehmen. Wobei interessant zu lesen ist, dass hier nicht nur oder primär
das eigene Land, die eigene Führung angegriffen wird (auch das gibt es
allerdings), sondern immer wieder massiv der "Feind außerhalb"
angesprochen wird. Sei es, dass natürlich eine gewisse Auswahl an zu lagernden
Dokumenten getroffen wurde, sei es, dass dies tatsächlich der Stimmung an
manchen Orten der DDR entspricht, interessant zu lesen ist es allemal.
Wie jener anonyme Brief aus dem Februar 1987, in dem das Politbüro stark für
seine kritische Haltung der Sowjetunion gegen über kritisiert wird, Aber gar
nicht im Sinne der "mehr Freiheit" Haltung, sondern in der
Interpretation, dass hier nun die Rückbesinnung auf die alten Werte der
Revolution zu lernen sei. Trotz Kritik an der Divergenz zwischen Realität und
Darstellung der Volksvertreter ist der Wille zum "sozialistischen
Aufbau" gegen "den Feind" spürbar massiv in diesem Brief zu
lesen. Wie schon im Jahr 1972 ein ebenso anonymer "alter Kommunist"
Ulbricht direkt rügt für den Plan von Verstaatlichungen von Betrieben.
Immer wieder ergibt sich so ein differenziertes, sehr interessantes Bild von
Menschen, Bürgern, die durchaus konkret Kritik üben, die aber auf der anderen
Seite dies aus einer Haltung der Verbundenheit zum eigenen Land, zum
"Aufbau des Sozialismus" heraus zu tun scheinen. "Vom Reden
werden die leeren Regale nicht voll". Oder die harsche Forderung nach
Erhöhung der Renten. Im Gesamten, doch klein ist die Welt auch des
DDR-Bürgers. Die eigene Versorgung. Die Kritik an den "zu hohen
Bezügen" Honeckers als ungerecht und ungleich empfunden. Auch das sind
Linien und Stimmen in den Briefen, die doch sehr "übersystemisch"
wirken und gegenwärtig genauso laut erschallen.
Oft und oft ist es eben jener Widerspruch zwischen den vollmundigen,
öffentlichen Reden und Verlautbarungen gegenüber der als eher "nach
unten" weisenden, eigenen Einschätzung der alltäglichen Lage. Briefe ins
Ausland, nach Bonn, Briefe mit Glückwünschen, persönlichen Einladungen an
prominente Parteikader runden das Bild ab. Das in dem klaren,
umgangssprachlichen Stil der Briefe nicht nur ein konkret "Volksbild"
der ehemaligen DDR vor Augen führen, sondern auch Linien vom "Volk"
über den konkreten Staat oder die konkrete Zeit hinaus beinhalten. Wenn die
Versorgung bedroht wird, die Sicht auf mögliche (persönliche und allgemeine)
Fortschritte sich eintrübt.
Fazit
"Die SED ist keine Arbeiterpartei mehr... sondern eine Partei der
Emporkömmlinge und Neureichen". Briefe wie dieser zeigen, wie sozialer
Sprengstoff entsteht und wie sich ein Abstand zwischen Volk und Führung
langsam, aber stetig beginnt, auszuwirken.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 16. März 2016 2016-03-16 13:55:54