Holly Sykes Eltern betreiben in der englischen Grafschaft Kent den Pub Captain
Marlow, der das Familienleben dominiert. Holly verdient zwar Geld durch ihre
Mithilfe, aber wie viele Jugendliche will sie einfach nur raus. Die
Enttäuschung über ihren Liebsten Vinny ist schließlich der Auslöser, dass
Holly die Schule hinwirft und abhaut. Zur Zeit des englischen
Bergarbeiterstreiks 1984 trampt sie los, schlägt sich als Erdbeerpflückerin
durch und trifft dabei interessante Figuren, die an ihren Lebensweg andocken.
Parallel zu Hollys Verschwinden wird auch ihr jüngerer Bruder Jacko vermisst,
der nach einer Meningitis-Erkrankung hilfebedürftig blieb und zugleich eine
sonderbare Inselbegabung entwickelte. Schon früh hat Holly übersinnliche
Fähigkeiten entwickelt, eine aus der Familie ihrer irischen Mutter vererbte
Eigenschaft, die sie zunächst aus Angst geheim hält, für psychisch krank
gehalten zu werden. Durch die familiäre Gabe wirkt Hollys besonderes irisches
Ohr völlig glaubwürdig. Ihre Wahnvorstellungen und Visionen dagegen wirken
äußerst bedrohlich. Mit dem Erwachsenwerden zeigen sich ihre übersinnlichen
Fähigkeiten immer ausgeprägter. Hollys Weg kreuzen ihr Jugendfreund Ed, der
als Erwachsener als Kriegsreporter arbeiten wird und die grandiose Figur einer
irischen Großtante, die mit dem Fahrrad nach Katmandu reiste. Scharfzüngige
Seitenhiebe auf Autoren, das Schreiben, Kritiker oder die Rolle des Profits in
den Kriegen der Neuzeit sind z. B. um die Figur Eds herum zu entdecken.
In Knochenuhren erzählt David Mitchell wieder multiperspektivisch von einer
Vielzahl von Figuren, deren Wege sich weltweit und mehrfach kreuzen und die
teils als Icherzähler auftreten. Zeitweilig wirkt der schnelle Wechsel zwischen
Erzählen aus der 1. und der 3. Person wie ein Wackelkontakt im Manuskript. Bei
Mitchells Spiel mit der Wahrnehmung seiner Leser erhält man den Eindruck, dass
er von seiner multiperspektivischen Darstellung eine Steigerung in 3D entwickelt
hat. Wer kein Interesse für Phantastisches hat, könnte enttäuscht davon sein,
dass der Roman sehr früh auf eine phantastische, übersinnliche Ebene
einschwenkt. So wird es möglich, dass die Handlung in die Zukunft vorausläuft
und apokalyptische bis dystopische Entwicklungen bis zum Jahr 2043 zu verfolgen
sind. Das Voranschreiten in die Zukunft ist Holly aufgrund ihrer spirituellen
Kräfte durchaus bewusst. Mitchells Figuren agieren überzeitlich. So sonderbar
die Ereignisse auch wirken mögen, so treffend beschreiben sie den derzeitigen
Zustand unserer Welt.
Die lakonischen Dialoge des Romans auf Hollys sonderbaren Wege allein sind
sprachlich ein Genuss und wurden von Volker Oldenburg in zeitgemäßes Deutsch
übersetzt.
Fazit
Aus Kenntnis Mitchells früherer Romanen ist vorauszusehen, dass sie wie ein
Büffet mit zahlreichen Häppchen wirken können, die einem nicht alle schmecken
müssen. Auch wenn ich die zahlreichen Verknüpfungen zwischen den Personen und
zu aktuellen Ereignissen fasziniert verfolgt habe, sind mir die Ereignisse nach
dem ersten Drittel des Buches zu abgedreht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 13. März 2016 2016-03-13 09:07:26