Mitten aus dem Leben gegriffen
"Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich immer einen sehr schlechten
ersten Eindruck gemacht"
Eine frühe Mitteilung in der ersten der 30 Kurz- (und "Kürzest")
Geschichten, die in diesem Band von der, lange Zeit ihres Lebens kaum real
greifbaren, Schriftstellerin Lucia Berlin. Erst 2015 wurde das Geheimnis ihrer
Identität gelüftet, 11 Jahre nach ihrem Tod. Frei weg fließen die Worte. Ob
sie eben jenen ersten Eindruck schildert, den sie an der neuen Schule
hinterlassen hat (und der ihr lange nachgehen wird dort), ob sie von einem
"Mama, Mama" Wimmern eines Jockeys erzählt (und dabei die Kleidung
des Sportlers und seinen filigranen Körperbau minutiös beschreibt), oder ob
sie den Scheinwerfer auf die Härten der Kindheit lenkt, auf die einfach auch
Grausamkeit des Mobbings untereinander, wenn man nicht ganz hineinpasst, den
ersten Eindruck vergeigt hat. Oder auf den "religiösen Fanatismus",
der ihre Ich-Erzählerin in einer der Geschichten ergriffen hat und doch nicht
Selbstzweck ist, sondern Mittel zum Ziel, wie sich am Ende herausstellen
wird.
Für alle Geschichten im Buch gilt gleichermaßen, dass Berlin sprachlich
wunderbar zu formulieren versteht, lebhafte, detaillierte innere Bilder beim
Leser erweckt. Wobei das alltägliche Leben, die eigenen Erlebnisse letztlich
niedergeschrieben werden, Leben und Schreiben sind eine "fortlaufende, sich
wechselseitig entzündende Bewegung". Unbedingt nun aber den "tieferen
Sinn" oder eine "höhere Moral" hinter den Geschichten zu suchen
oder zu vermuten, das wird nicht immer gelingen. Eher sind es
"Aha.Effekte" (wie bei der Schilderung des Spotts anderer Kinder), die
im Leser eigene "Lebensbilder" wachrufen. In ihm, trotz der doch nun
lange zurückliegenden Zeit der Verfassung der Geschichten, auch das eigene
Leben immer wieder vor Augen führt.
Nicht "Worum es im Tieferen geht" ist dabei das Thema der Autorin,
sondern "was passiert?" Hier, jetzt, um die Ecke, zufällig, wie auf
den Lebensweg geworfen. Das Besondere in diesem Alltäglichen zu beschreiben,
oft schroff, kaum zueinander passend in den Figuren, lenkt Berlin immer wieder
den Blick auf die Abgründe des menschlichen Lebens, das Sein hinter den
Fassaden. Das ist nicht immer leicht zu lesen, das hat nicht immer eine
Spannung, die den Leser ergreift, aber durchgehend findet sich schon ein je
besonderer Hauch in diesen Begegnungen und Abgründen des menschlichen Lebens,
welche Berlin am eigenen Leben zuhauf selbst erfahren hat.
Fazit
Man braucht allerdings Geduld und eine vordergründige Freude an der Sprache und
Formulierkunst der Autorin, um in den einzelnen Geschichten als Leser auf seine
Kosten zu kommen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 10. März 2016 2016-03-10 14:01:15