Der "Spiegel" hat in seinem Heft 8 vom 16. 02. 04 den "zweiten
dreißigjährigen Krieg" von 1914 bis 1945 zum Thema gemacht. Anlässlich
des 90. Jahrestages des ersten Weltkrieges, des ersten "totalen"
Krieges in der Geschichte der Menschheit, werden zahlreiche Neuerscheinungen zu
dem Thema angekündigt. Wer sich in Kürze über die Gründe und Ursachen zum
ersten Weltkrieg informieren möchte, der sollte auf jeden Fall Sebastian
Haffners Standardwerk aus dem Jahre 1964 zur Hand nehmen. Es ist bis heute nicht
veraltet. Krieg und Niederlage, so Haffner, warnen kein "Schicksal".
"Sie waren das Ergebnis falscher Einschätzungen, falscher Entscheidungen
und falscher Maßnahmen deutscher Regierungen, die meist die Zustimmung der
deutschen Öffentlichkeit hatten." (S. 8). Die Deutsche Reichsleitung hat
gravierende Fehler gemacht, wie sie seit der sogenannten
"Fischer-Kontroverse" seit 1961 (mit dem Erscheinen von Fritz
Fischers: "Griff nach der Weltmacht", der dem Kaiserreich die
Hauptschuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges gab) offenkundig geworden sind.
Die wichtigsten Fehler, oder "Sünden" listet Haffner hier auf. Auf
136 Seiten schafft es Haffner, die wichtigsten Fehler des Kaiserreiches
aufzulisten: Es sind dies aus Haffners Sicht: die Abkehr von Bismarcks
gemäßigter Außenpolitik, der Schlieffenplan, der offenbarte, dass der
deutsche Generalstab 1914 für einen europäischen Zweifrontenkrieg im Jahre
1914 keinen anderen Plan besaß, der im Osten die Defensive und notfalls den
Rückzug vorsah, im Westen aber die Offensive zur schnellen Niederwerfung
Frankreichs und zwar unter Verletzung der belgischen Neutralität. Diese
Verletzung der belgischen Neutralität führte zum Kriegseintritt Englands.
"Von dem Augenblick, wo die Sache von den Diplomaten und Politikern auf die
Militärs überging, kam darum in das deutsche Verhalten ein ganz
unbegreiflicher, radikaler Knick oder Bruch" (S.37). Als dritten
Kardinalfehler des deutschen Reiches benennt Haffner die innenpolitische
Festlegung auf einen Siegfrieden bei fehlender Siegesmöglichkeit. Dies habe
jede sinnvolle deutsche Außenpolitik unmöglich gemacht (S. 56). Sie führte
zur Festlegung der deutschen politischen und militärischen Führung, dass es
weder in Belgien noch in Polen eine Rückkehr zur Vorkriegslage geben dürfe.
Genau in dem Augenblick, in dem der amerikansiche Präsident Wilson für die
Zeit nach seiner Wiederwahl im November 1916 eine Friedensvermittlung
vorschlägt und in Rußland das Haupt der "Friedenspartei", Stürmer,
Ministerpräsident wird, schafft Deutschland in Belgien und Polen vollendete
Tatsachen: im Oktober 1916 werden 400 000 belgische Arbeiter für die deutsche
Kriegsindustrie zwangsverpflichtet und nach Deutschland deportiert, am 5.
November wird im von Deutschland besetzten Russisch-Polen das "Königreich
Polen" proklamiert. Haffners Fazit: "es sind dies die beiden
unverständlichsten Aktionen der deutschen Kriegspolitik" (S. 59). Offenbar
wollten einige deutsche Politiker keine Friedensvermittlung haben, die ihnen
keinen Siegfrieden hätte bringen können (S. 63). Die "Kriegspartei"
in Deutschland wollte den "Totalsieg" (Haffner) und hegte zwei neue
Pläne: den unbeschränkten U-Boot-Krieg gegen die USA, die zum Kriegseintritt
der USA an der Seite Englands und Frankreichs führte (Todsünde Nr. 4) und die
Unterstützung der russischen Revolution, um das Ausscheiden Russlands aus der
Reihe der Kriegsgegner zu erreichen. Dies gelang zwar. Lenin kam mit deutscher
Unterstützng an die Macht und schloss den Frieden von Brest-Litowsk. Dieser
Frieden führte jedoch zur Konzentration wesentlicher deutscher Truppen auf
russisches Gebiet. Sie fehlten bei der entscheidenden Schlacht im Westen ab
März 1918 - insofern war Brest-Litowsk ein schwerer Fehler (Todsünde Nr.6),
der den Krieg besiegelte, denn: "Nur knapp die Hälfte der im Osten
entbehrlichen deutschen Truppen war im Winter 1917/18 in den Westen überführt
worden." (S. 105). Warum war dies so: weil man der Verscuhung, sich im
Osten in diesem Augenblick russischer Schwäche ein riesiges Imperium
zusammenzuzimmern, nicht widerstehen konnte. (S. 106). Dies führte in die
Niederlage. Der wirkliche "Dolchstoß" - so Haffner, Todsünde Nr. 7,
war die Unfähigkeit der Verantwortlichen, die wahre Lage einzugestehen, sich im
Mai 1918 aus Frankreich, Belgien und Luxenburg zurückzuziehen und die
militärisch noch verbliebene Verteidigungskraft militärisch sparsam
einzusetzen. Dies geschah nicht. Die deutsche Niederlage, so Haffner völlig
korrekt, vollzog sich in drei deutlich voneinander abgesetzten Phasen. Die erste
dauerte von April bis Juni 1918, in der zumindest die Masse des deutschen
Volkes, nach Haffner auch der Feind, nicht wußte, was die Stunde geschlagen
hatte (S. 124)"und die deutsche Führung, die es hätte wissen msssen, zog
es vor, sich selbst zu belügen. Dies war die Zeit der unverzeilichen
Unterlassungen." (S. 124). Die zweite Phase, von Mitte Juli bis Ende
September, war die Zeit der duetschen militärischen Niederlagen. Die dritte
Phase war die Verweigerung der bisher verantwortlichen Militärs um Ludendorff,
die Niederlage zu tragen und die Reichsregierung bat, den amerikanischen
Präsidenten um Vermittlung des Waffenstillstandes zu bitten. Haffner hat sich
hiermit näher in seinem Buch: "Die deutsche Revolution 1918/19"
auseinandergesetzt. Ludendorff gab die Verantwortung an die sogenannten
"Friedensparteien" der späteren Weimarer Koalition ab. Somit wurden
diese Parteien für die Niederlage verantwortlich gemacht. Sie, nicht die
verantwortlichen Militärs, die Deutschland in den Krieg geführt hatten,
mußten den Versailler Friedensvertrag unterzeichnen. Dieser war äußerst
ungerecht und bahnte letztlich Hitler den Weg. Er legte damit den Keim zum neuen
Weltkrieg, wie der "Spiegel" korrekt resumiert.
Haffners Verdienst ist es, diese Fehler des deutschen Reiches klar
herausgearbeitet und sich auf das Wesentliche konzentriert zu haben. Überhaupt
ist dies das Faszinierende an allen Haffnerschen Publikationen: dass er spannend
schreibt und mit psychologischem Falkenblick das Wesentliche vom Unwesentlichen
trennt.
Fazit
Die Ursachen für die "Urkatastophe" (Hans-Ulrich Wehler), den ersten
Weltkrieg auf deutscher Seite so prägnant geschildert zu haben, ist Haffner
gelungen. Im Vorwort erklärt er: ""Aber die anderen waren auch nicht
besser und haben auch ihre Fehler gemacht!" Wahrscheinlich, aber für den,
der aus seinem eigenen Unglück lernen will, ziemlich uninteressant." (S.
9). Völlig richtig. Wer aus seinen Fehlern lernen will, muss diese kennen. Dazu
trägt dieses Buch von Haffner bei. Es gehört zu den besten Büchern über
Ursachen und Verlauf des ersten Weltkrieges, die ich kenne und dürfte trotz der
Flut an Veröffentlichungen zu diesem Thema nach wie vor eines der Standardwerke
zum ersten Weltkrieg bleiben.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 18. Februar 2004 2004-02-18 20:33:56