Harper Lee wurde bekannt durch ihren Roman "Wer die Nachtigall stört"
aus den 1960-er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Beschreibung der Kindheit der
Autorin in Maycomb in Alabama ist mittlerweile zu einem Literaturklassiker
geworden. Was lange niemand ahnte: dieses Buch war nicht der einzige, ja nicht
einmal der Debutroman der Autorin. Während in "Wer die Nachtigall
stört" die siebenjährige Scout in Ich-Form ihre Kindheitserlebnisse in
den USA der 1930-ger Jahre schildert und dabei den Zauber und die Poesie einer
Kindheit im tiefen Süden der Vereinigten Staaten beschwor, spielt "Gehe
hin, stelle einen Wächter" rund 20 Jahre später. Die 26-jährige
Jean-Luise kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um den Sommer bei ihrer Familie zu
verbringen. Geprägt durch die liberale Atmosphäre in New York, kann sie die
Einstellung vieler Bewohner Maycombs zu den Schwarzen nicht nachvollziehen. Vor
allem ihr Vater Atticus entpuppt sich als Rassist, der Neger (dieser Begriff des
Orginals "negro" wurde in der Übersetzung wegen des Zeitpunktes der
Entstehung des Buches orgininalgetreu mit "Neger" übersetzt) ihrer
Rasse wegen für minderwertig hält.
Jean Luises Weltbild wird damit auf den Kopf gestellt. Hatte ihr Vater nicht in
"Wer die Nachtigall stört" einen Neger, den er für unschuldig hielt,
verteidigt? Hatte er nicht Werte wie Toleranz, Güte und Pflichtbewußtsein wie
kein anderer für die Tochter verkörpert? Wie kommt dieser Sinneswandel
zustande? Oder hat sich die Tochter von jeher in ihrem Vater getäuscht? Soll
sie sich von ihm lossagen, mit ihm brechen? Ist es nicht genau das, was ihr
Gewissen - Jean Luise lehnt Rassismus aus tiefstem Herzen ab - jetzt von ihr
verlangen muss?
Mitte der 1960-ger Jahre entstanden erzählt "Gehe hin, stelle einen
Wächter" die Geschichte von der schmerzhaften Abnabelung einer Tochter von
ihrem vergötterten Vater. Erzählperspektive ist hier - im Gegensatz zur
"Nachtigall" - nicht die Ich-Form, sondern die distanziertere
Sie-Form. Alles wird aus der Perspektive Jean-Luises erzählt; die (neue)
Erzählperspektive verwehrt dem Leser jedoch die totale Identifikation mit der
personalen Erzählerin. Die Zweifel der Protagonistin (hat sie sich geändert
oder sind alle Bekannten ihrer Umgebung plötzlich verrückt geworden?) werden
so beklemmend deutlich; auch der Leser muss sich "entscheiden" ohne
dazu verführt zu werden, sich (zu vorschnell?) mit Jean-Luise zu
identifizieren. Diese Zweifel der Erzählerin wachsen auch, da ihr ein
gleichaltriger Ratgeber fehlt: der von Jean-Luise geliebte Bruder Jem ist -
ebenfalls ein "Schock" für Kenner der "Nachtigall" -, allzu
früh verstorben, sodass zuletzt ihr deutlich älterer Onkel diese Funktion des
Ratgebers übernimmt.
Das Buch wirkt beklemmender und komplexer als die "Nachtigall", wirkt
aber meines Erachtens genau deshalb noch authentischer und aufwühlender. So
schön die "Nachtigall" zu lesen ist, die Idealisierung der Vaterfigur
erscheint doch etwas naiv (eine Naivität, die der Leser einer siebenjährigen
Ich-Erzählerin allerdings abnimmt, der erwachsenen Protagonistin in diesem Buch
jedoch nicht mehr abnehmen würde). So erweist sich Atticus im
"Wächter" (Atticus war der ursprünglich von der Autorin
vorgeschlagene Titel dieses von der Lektorin abgelehnten Werkes) - als ein
durchaus vielschichtigerer Charakter als der er in der "Nachtigall"
erscheint. Dies tut dem Roman meines Erachtens gut. Dass diese klassische
"Story of Initiation", also Geschichte vom Erwachsen-Werden so
eindrucksvoll geraten ist, hängt meines Erachtens genau damit zusammen: wir
erleben hier keine "heile" Welt mit blütenweißen eindimensionalen
Figuren ohne Fehl und Tadel; wir erleben hier facettenreiche, vielschichtige
Charaktere und das Sich-Finden einer Persönlichkeit; Jean-Luise lernt, ihren
Gefühlen und ihrem Gewissen zu vertrauen. Sie nabelt sich nicht nur von ihrem
Vater ab, sondern dem Mann, mit dem sie sich ursprünglich verloben wollte:
Henry Clinton, dem Gehilfen ihres Vaters. Denn sie erkennt: beide passen nicht
zusammen, ihre Werthaltung ist grundverschieden. Daher müssen sie getrennte
Wege gehen. Dieser Prozess der Abnabelung vom zukünftigen Verlobten geht etwas
in dem Vater-Tochter-Konflikt unter, ist aber ebenso wichtig wie die
Emanzipation vom Vater, der endlich vom (idealisierten) "Gott" zum
"Menschen" degradiert aber meines Erachtens dadurch viel interessanter
wird.
Ein vielschichtiges, sehr komplexes Meisterwerk voller Leidenschaft und einer
bildhaften wunderbaren Sprache. Für mich ist dieses Buch angesichts der
Rassenunruhen von Ferguson aber auch von beklemmender Aktualität: denn die
Denkweise in Bezug auf die "mindere Intelligenz" der Schwarzen, wie
sie in den Debatten des Bürgerkomitees von Maycomb (aus einer dieser
Versammlungen, die Jean-Luise heimlich besucht, wird berichtet) und aus den
Worten von Atticus anklingen, scheinen mir beklemmend aktuell zu sein. Ich habe
durch die Lektüre dieses Buches erkannt, wie Rassisten denken (Atticus beruft
sich bei seinen Ideen auf niemand geringeren als einen der Gründerväter der
USA, Thomas Jefferson, der ein Wahlrecht nur für die "gebildeten
Schichten" vorsah und dies "ungebildeten Negern" verwehren
wollte) und wie tief der Graben zwischen dem "liberalen" Norden und
dem Süden der USA immer noch ist. Und doch hat sich - wie die Wahl eines
Schwarzen zum Präsidenten der USA zeigt - in den 60 Jahren seit dem Verfassen
dieses Buches in dieser Beziehung viel getan. Die Botschaft der Geschichte aber,
einen eigenen Standpunkt, eine eigene Werthaltung zu entwickeln und zu
vertreten, die in dem zentralen Satz am Ende des Buches artikuliert wird:
"Der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein
kollektives Gewissen gibt es nicht" (ausgesprochen durch Jean-Luises Onkel)
ist zeitlos. Und genau darin liegt für mich der Wert dieses Werkes, welches
meines Erachtens literarisch nicht hinter der "Nachtigall"
zurücksteht - eben weil es komplexer und vielschichtiger ist als der berühmte
"Nachfolger", der völlig zu recht zum
"Südstaaten-Klassiker" geworden ist.
Fazit
"Gehe hin, stelle einen Wächter" hat mich sehr beeindruckt. "Ein
bewegender Roman über Familienbande und ein literarisches Zeitdokument voller
Wiesheit, Humor und Leidenschaft" heißt es in der Zusammenfassung im
Buchumschlag. Genauso habe ich dieses Buch empfunden. Sehr lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 15. August 2015 2015-08-15 00:29:05