Kong Meili ist erst zwanzig Jahre alt, als sie mit ihrem Mann Kongzi aus ihrem
Dorf vor dem Familienplanungstrupp flieht. Meili hat keine Erlaubnis, nach
ihrer Tochter Nannan ein zweites Kind zu bekommen, und fürchtet, mit Gewalt zur
Sterilisation gezwungen zu werden. Die kompromisslose Bevölkerungspolitik des
chinesischen Staates wird von den Bauern als besonders ungerecht empfunden, weil
sie sich dringend männliche Nachkommen wünschen und wissen, dass Geldstrafen
für illegal geborene Kinder vor Ort direkt in den Taschen korrupter Kader
landen. Doch die Familienplanungskommission steht über dem Gesetz, eine
Möglichkeit zu Beschwerde ist nicht vorgesehen. Der Dorfschullehrer Kongzi
(Kong Lingming) ist ein direkter Nachfahre von Konfuzius und fühlt sich
verpflichtet, seine Ahnenreihe mit einem Sohn fortzusetzen. Keinen Sohn zu
bekommen ist die schlimmste der Nichterfüllungen, predigte sein berühmter
Vorfahre.
Auf den Tipp hin, in den Orten am geplanten Drei-Schluchten-Damm würden die
Behörden weniger genau kontrollieren, schlägt die kleine Familie sich an den
Yangtse durch. Das Paar hat keinen Zugang zu verlässlichen Informationen und
entscheidet aufgrund von Mund-zu-Mund-Propaganda über sein Leben. Die
Umweltverschmutzung durch Recyceln von Elektroschrott soll im Raum von Foshan
sogar so stark ist, dass dort sowieso kein Paar schwanger werden kann, lautet
eines der Gerüchte. Die Flüchtlinge leben von der Hand in den Mund, verrichten
am und auf dem Fluss verschiedenste Arbeiten. Kong schuftet in einem Abrissteam,
sie züchten Enten, transportieren Waren per Boot. Doch die Furcht vor den
Behörden und die Angst vor Verrat verlässt die Kongs nicht. Durch ihre Flucht
aus dem Heimatdorf sind sie nach chinesischem Rechtsverständnis drei Mal ohne:
ohne Papiere, Wohnerlaubnis und Einkommen, als Wanderarbeiter aber auch ohne
ärztliche Versorgung und Bildung für ihr Kind.
Ihr Leben am verschmutzten Fluss macht die Kongs zu Opfern wie Tätern. Die
drohende Konsequenz können sie nur verdrängen, während sie von den
herrschenden Verhältnissen zunehmend in die Enge gedrängt werden. Sie sind
Teil eines korrupten Systems, das ihre Kinder töten wird. Sie nutzen das
Flusswasser, handeln mit gespritzten, gefälschten, gesundheitsschädlichen
Lebensmitteln. Falls Meili noch einmal schwanger werden würde, wäre durch ihre
Lebensweise die Gesundheit des Kindes massiv bedroht. Meili hat seit Beginn
ihrer Ehe die Erfahrung gemacht, dass ihr Körper nicht ihr, sondern dem Staat
gehört. Die Erlebnisse um Kinderwunsch und Schwangerschaft haben sie
traumatisiert. In ihren Gedanken hat der Geist ihres noch immer nicht lebend
geborenen Kindes überlebt, der auf seine Re-Inkarnation wartet. Die Sicht des
Kindsgeistes ist eine der Erzählperspektiven des Buches.
Ma Jian wurde als kritischer Chronist der Zustände in seinem Geburtsland
bekannt. Im Dienste seiner Mission schont er deshalb seine Romanfiguren nicht.
Die glaubwürdige Darstellung der Entwicklung der kleinen Nannans (zwischen
ihrem zweiten und achten Lebensjahr) gehört nicht gerade zu den Stärken des im
englischen Exil lebenden Autors.
Fazit
Da mir der Zusammenhang von individuellem Handeln und ökologischen Folgen
bewusst ist, hatte ich beim Lesen zunehmend den Eindruck, dass die eigentliche
Zielgruppe des in englischer Sprache erschienen Romans chinesische Leser sein
müssten. Die Verdichtung der außerhalb Chinas längst bekannten
Umweltskandale und der herrschenden Korruption auf das Einzelschicksal einer
Familie wirkt in dieser Intensität für mich nur schwer erträglich und beinahe
grotesk.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 29. Juli 2015 2015-07-29 12:28:45